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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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nach vorn, gegen den Garten und das Tal: Umstände, durch die Wirkung und Sinn der Treppe gewissermaßen durchkreuzt und aufgehoben wurden. Denn man glaubte wohl über ihre Stufen von ebener Erde hinabzusteigen, befand sich aber drunten immer noch und wiederum zu ebener Erde oder doch nur ein paar Schuh darunter, – ein belustigender Eindruck für Hans Castorp, als er seinen Vetter, der sich vom Bademeister wiegen lassen sollte, nachmittags einmal in diese Sphäre »hinunter«-begleitete. Es herrschte klinische Helligkeit und Sauberkeit dort; alles war weiß in weiß gehalten, und in weißem Lack schimmerten die Türen, auch die zu Dr. Krokowskis Empfangszimmer, an der die Visitenkarte des Gelehrten mit einem Reißnagel befestigt war, und zu der noch eigens zwei Stufen von der Höhe des Flurganges hinabführten, so daß der dahinter liegende Raum einen gelaßartigen Charakter erhielt. Sie lag rechts von der Treppe, diese Tür, am Ende des Ganges, und Hans Castorp hatte ein besonderes Auge auf sie, während er, auf Joachim wartend, den Korridor auf und nieder ging. Er sah auch jemanden herauskommen, eine Dame, die kürzlich eingetroffen war und deren Namen er noch nicht kannte, eine Kleine, Zierliche mit Stirnlöckchen und goldenen Ohrringen. Sie bückte {205} sich tief, die Stufen ersteigend, und raffte ihren Rock, indes sie mit der anderen kleinen, beringten Hand ihr Tüchlein an den Mund preßte und darüberhin aus ihrer gebückten Haltung mit großen blassen, verstörten Augen ins Leere blickte. So eilte sie mit engen Trittchen, bei denen ihr Unterrock rauschte, zur Treppe, blieb plötzlich stehen, als besänne sie sich auf etwas, setzte sich trippelnd wieder in Lauf und verschwand im Stiegenhause, immer gebückt und ohne das Tüchlein von den Lippen zu nehmen.
    Hinter ihr, als die Tür sich geöffnet hatte, war es viel dunkler gewesen als auf dem weißen Korridor: die klinische Helligkeit dieser unteren Räume reichte offenbar nicht bis dorthinein; verhülltes Halblicht, tiefe Dämmerung herrschte, wie Hans Castorp bemerkte, in Dr. Krokowskis analytischem Kabinett.

Tischgespräche
    Bei den Mahlzeiten im bunten Speisesaal bereitete es dem jungen Hans Castorp einige Verlegenheit, daß ihm von jenem auf eigene Hand unternommenen Spaziergang das großväterliche Kopfzittern zurückgeblieben war, – gerade bei Tisch stellte es sich fast regelmäßig wieder ein und war dann nicht zu verhindern und schwer zu verbergen. Außer der würdigen Kinnstütze, die nicht dauernd festzuhalten war, machte er verschiedene Mittel ausfindig, die Schwäche zu maskieren, – zum Beispiel hielt er tunlichst den Kopf in Bewegung, indem er nach rechts und links konversierte, oder er drückte, etwa wenn er den Suppenlöffel zum Munde führte, den linken Unterarm fest auf den Tisch, um sich Haltung zu geben, stellte auch wohl den Ellenbogen auf in den Pausen und stützte den Kopf mit der Hand, obgleich dies eine Flegelei war in seinen eigenen Augen und nur in ungebundener Krankengesellschaft allenfalls durchgehen mochte. Aber das alles war lästig, und es fehlte {206} nicht viel, daß es ihm die Mahlzeiten vollständig verleidet hätte, die er doch sonst, um der Spannungen und Sehenswürdigkeiten willen, die sie mit sich brachten, so wohl zu schätzen wußte.
    Es lag aber so – und Hans Castorp wußte das auch genau –, daß die blamable Erscheinung, mit der er kämpfte, nicht nur körperlicher Herkunft, nicht nur auf die hiesige Luft und die Anstrengung der Akklimatisation zurückzuführen war, sondern eine innere Erregung ausdrückte und mit jenen Spannungen und Sehenswürdigkeiten selbst unmittelbar zusammenhing.
    Madame Chauchat kam fast immer zu spät zu Tische, und bis sie kam, saß Hans Castorp und konnte die Füße nicht ruhig halten, denn er wartete auf das Schmettern der Glastür, von dem ihr Eintritt unweigerlich begleitet war, und wußte, daß er dabei zusammenfahren und sein Gesicht würde kalt werden fühlen, was denn auch regelmäßig geschah. Anfangs hatte er jedesmal ergrimmt den Kopf herumgeworfen und die fahrlässige Nachzüglerin mit zornigen Augen zu ihrem Platze am »Guten« Russentisch begleitet, auch wohl ihr halblaut und zwischen den Zähnen ein Scheltwort, einen Ruf empörter Mißbilligung nachgesandt. Das unterließ er jetzt, beugte den Kopf tiefer über den Teller, wobei er sich wohl gar auf die Lippe biß, oder wandte ihn absichtlich und künstlich nach der anderen Seite; denn ihm war, als komme der

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