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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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die gräßlichen Überbleibsel des Gemetzels tags zuvor in der trüben Morgendämmerung aus. Und die Aufregung, der stürmische Drang nach dem Leben der ersten Stunden war unter dem dumpfen Druck des Fiebers einer Art Erschöpfung gewichen. In dem schwülen Schweigen erhob sich kaum eine leise, schlaftrunken gestammelte Klage. Die glasigen Augen gerieten beim Wiedererblicken des Tageslichtes in Verwirrung, die verklebten Mundhöhlen stießen einen üblen Geruch aus, der ganze Saal war jener endlosen Reihe bleigrauer, ekelerregender Tage voller Todeskämpfe verfallen, die diese armen Verstümmelten nun durchmachen mußten, um, falls sie sich noch durch sie hindurchquälten, schließlich nach zwei oder drei Monaten mit Verlust eines Gliedes dazustehen.
    Bouroche, der nach ein paar Stunden Ruhe seine Beobachtungen begann, blieb vor dem Trommler Bastian stehen und ging dann mit einem unmerklichen Achselzucken weiter. Nichts zu machen! Der Trommler hatte indessen die Augen weit aufgerissen; und als ob er wieder ins Leben zurückgerufen wäre, verfolgte er mit lebhaftem Blick einen Sergeanten, der auf den glücklichen Gedanken verfallen war, mit seinem Käppi voll Gold hineinzukommen, um zu sehen, ob sich nicht ein paar von seinen Leuten unter den armen Teufeln befänden. Richtig fand er auch zwei und gab ihnen jedem zwanzig Francs. Andere Sergeanten folgten ihm, und das Gold begann nur so auf das Stroh herniederzuregnen. Und Bastian, dem es endlich gelungen war, sich wieder aufzurichten, streckte auch seine im Todeskampf zitternden Hände aus.
    »Mir auch! Mir auch!«
    Der Sergeant wollte ihn wie Bouroche übergehen. Aber warum? Er gab daher einer Regung seines Menschlichkeitsgefühls nach und warf ihm eine Anzahl Goldstücke, ohne sie zu zählen, in die bereits erkalteten Hände.
    »Mir auch! Mir auch!«
    Bastian war wieder hintenübergefallen. Er versuchte das ihm entfallene Gold wieder zu greifen und tastete lange mit steifen Fingern umher. Dann starb er.
    »'n Abend! Der Herr hat seine Kerze ausgepustet!« sagte sein Nachbar, ein kleiner dürrer Zuave. »So was ist ärgerlich, wenn man gerade etwas bekommt, um sich einen Schnaps zu bezahlen!«
    Ihm war der linke Fuß in eine Schiene eingeschnallt. Er konnte sich jedoch soweit aufrichten, um sich auf Knien und Ellbogen weiterschleppen zu können; und als er bis zu dem Toten gekommen war, sammelte er alles auf und untersuchte ihm sogar die Hände und den Rock. Als er wieder auf seinen Platz gekommen war und fand, daß man ihn beobachtet hatte, sagte er lediglich:
    »Ist doch nicht nötig, nicht wahr, daß so was verlorengeht?«
    Maurice, dessen Herz beim Anblick all dieses menschlichen Jammers erstickte, beeilte sich, Jean hinwegzuziehen. Als sie den Operationsschuppen durchschritten, sahen sie Bouroche ganz verzweifelt darüber, daß er kein Chloroform bekommen konnte, und trotzdem hatte er sich gerade entschlossen, einem armen Kerlchen von zwanzig Jahren ein Bein abzunehmen. Sie liefen weg, um nichts davon zu hören.
    Gerade in dieser Minute kam Delaherche von der Straße zurück. Er winkte sie heran und rief:
    »Rasch, rasch, kommen Sie herauf!... Wir wollen frühstücken,die Köchin hat es fertiggebracht, etwas Milch zu bekommen! Wirklich, das soll uns nicht schaden, wir haben wahrhaftig alle etwas Warmes nötig!«
    Aber trotz aller Bemühungen konnte er seine hervorquellende Freude nicht ganz unterdrücken. Er senkte die Stimme und fügte strahlend hinzu:
    »Diesmal haben wir's! General von Wimpffen ist gerade wieder weggeritten, um die Übergabe zu unterzeichnen!«
    Ach, was für ein Riesentrost, seine Fabrik gerettet, das Leben konnte weitergehen, schmerzerfüllt zwar, aber schließlich doch das Leben, das Leben. Es hatte gerade neun geschlagen, da war die kleine Rose angelaufen gekommen, um von einer Tante, die eine Bäckerei in diesem Viertel hatte, etwas Brot zu holen, und die hatte ihm die Vorgänge von heute morgen in der Unterpräfektur erzählt. Um acht Uhr hatte General von Wimpffen einen neuen Kriegsrat zusammengerufen, über dreißig Generale, denen er die Ergebnisse seiner Unterhandlungen, all die unnützen Bemühungen und die harten Forderungen des Feindes vorgelegt hatte. Die Hände zitterten ihm, und vor heftiger Erregung hatten ihm die Augen voll Tränen gestanden. Er hatte noch gesprochen, als ein preußischer Offizier gekommen war, um sich namens des Generals von Moltke als Parlamentär vorzustellen und daran zu erinnern, daß, falls um zehn Uhr

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