Dezembersturm
wird alles gut werden.«
»Aber was ist, wenn Ruppert einen Anschlag auf uns plant?«, fragte Lore. »Ich ziehe euch alle mit in die Affäre hinein!«
»Was kann der Mann denn schon tun? Er wird ja nicht einfach in unser Haus kommen und unsere kleine Lady umbringen«, versuchte Mary sie zu beruhigen.
Lore seufzte. »Nun, das hoffe ich auch. Aber jetzt müssen wir uns um Nati kümmern. Wie es aussieht, scheint es ihr besserzugehen.«
Tatsächlich war das Fieber der Kleinen nach der Schwitzpackung und der neuen Medizin gesunken, und auch ihr Atem ging freier, doch das erleichterte die Arbeit der beiden Pflegerinnen nicht. Das Kind quengelte mit einer selbst für Mary ungewohnten Ausdauer und hielt sie und Lore die ganze Nacht über auf Trab. Nati brachte selbst den Rest der Hausbewohner um ihren wohlverdienten Schlaf. Mrs. Penn stand jedes Mal mit grimmiger Miene auf, um zu sehen, was Lore nun schon wieder in der Vorratskammer oder am Herd zu suchen hatte. Aber sie half ihr, ohne zu klagen oder zu schimpfen. Ab und an ließ sie noch eine Andeutung fallen, dass Lore Natis Vormund sicher erzählen werde, wie gut das Kind in diesem Haus versorgt worden sei.
Am nächsten Morgen brachte Jonny die Nachricht, jemand habe ein Kellerfenster aufgebrochen, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Da nichts gestohlen worden war und Mary und Lore ihren Verdacht für sich behielten, blieb der Einbruch ein Rätsel und beschäftigte die ganze Nachbarschaft zumindest so lange, bis die neuesten Nachrichten vom Tiefwasserhafen herüberschwappten.
Die alte
Liverpool
war am Vortag noch einmal zum Wrack der
Deutschland
ausgelaufen und spät am Abend mit den Toten zurückgekehrt, die man aus dem oberen Salon und aus dem Maschinenraum hatte bergen können. Unter diesen befanden sich auch vier der fünf Franziskanernonnen, deren trauriges Schicksal den überwiegend katholischen Bewohnern der Straße am alten Hafen eine Menge Gesprächsstoff bot.
Natis Fieber stieg gegen Mittag wieder an und erforderte eine neue Schwitzpackung, aber keine der Nachbarinnen nahm Rücksicht auf die kleine Patientin und ihre übermüdeten Pflegerinnen. In Zweier- oder Dreiergrüppchen gaben sie sich die Klinke in die Hand. Jede von ihnen fragte Lore, ob die Menschen katholischen Glaubens jetzt in Deutschland verfolgt würden. Zunächst verstand Lore ihre Fragen nicht und hakte verwundert nach.
»Was soll in Deutschland sein?«
»Kultur-Kampf«, buchstabierte ihr eine der Frauen, die eine etwas ältere Londoner Zeitung in der Hand hielt, welche schon als Einwickelpapier gedient hatte. »Bismarck kämpft gegen die katholische Kirche! Was bedeutet das, Miss Laurie? Liegen der deutsche Kaiser und sein Kanzler im Krieg mit dem Vatikan?«
»Nein, ganz gewiss nicht!«, rief Lore und musste ein Lachen unterdrücken, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Sie kratzte das wenige Wissen zusammen, das sie von ihrem Großvater und aus den oft monatealten politischen Journalen bezogen hatte, die auf verschlungenen Wegen in den verarmten Haushalt gelangt waren. »Das ist kein Krieg, sondern nur ein politischer Streit! Der Reichstag hat beschlossen, dass an öffentlichen Schulen nur noch weltliche Lehrer unterrichten dürfen, aber keine Ordensleute mehr, das heißt keine Priester, Mönche oder Nonnen. Die frommen Schwestern dürfen nur noch als Krankenschwestern arbeiten. Aber das betrifft lediglich die staatlichen Schulen und nicht die, die der Kirche gehören – glaube ich wenigstens.«
»Aber hier steht etwas von Berufsverbot für Katholiken. Müssen fromme Leute in Deutschland nun betteln gehen, weil sie nicht mehr arbeiten dürfen?«, schlug eine andere Nachbarin in dieselbe Kerbe, und deren Tochter fragte Lore, ob Bismarck nicht doch der Luzifer persönlich sei. Er habe doch bestimmt einen Pferdehuf im Schuh.
Lore wusste kaum, was sie darauf antworten sollte, denn ihr Großvater hatte sehr viel von Fürst Otto von Bismarck gehalten. Daher suchte sie verzweifelt nach den richtigen Worten. »Nein, natürlich nicht! Es geht wirklich nur um die öffentlichen Schulen und Kindergärten im Deutschen Reich. Da will der Reichstag keine Lehrer, Lehrerinnen und Erzieherinnen mehr beschäftigen, die einem katholischen Orden angehören. Glauben darf man in Deutschland, was man will, und es wird auch niemandem die Arbeit weggenommen, nur weil er katholisch ist.«
Eine der Frauen hatte von anderen Schiffbrüchigen erfahren, dass Lore mit den fünf Franziskanernonnen gereist sei
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