Dezembersturm
und angeblich ebenfalls Nonne werden wolle. Das Gerücht verbreitete sich in Windeseile, und da sich auch alle Zeitungen im Umkreis auf den Titelseiten mit dem Untergang der
Deutschland
und dem Tod der Franziskanerinnen beschäftigten, stand Lore im Mittelpunkt vielfältigen Interesses. Aus dem gesamten Wohngebiet rund um den alten Fischereihafen kamen Besucherinnen, um aus erster Hand etwas über die armen Nonnen zu erfahren, die in den Augen der englischen Katholiken zu Märtyrerinnen ihres Glaubens geworden waren.
Vergebens versuchte Lore den Frauen klarzumachen, dass sie die Franziskanerinnen gar nicht richtig kennengelernt hatte und auch keineswegs beabsichtigte, in einen Orden einzutreten.
Zwei Tage wurde sie umlagert, während sie sich verzweifelt um Nati kümmerte, deren Gesundheitszustand sich einfach nicht deutlich bessern wollte. Zu ihrem Glück halfen Mary, Prudenceund Mrs. Penn mit, wo sie nur konnten. Im Gegensatz zu Lore hatte die Familie Penn nichts gegen die ständigen Besuche einzuwenden, denn alle, angefangen von Mrs. Penn bis zu ihrem drittjüngsten Kind, genossen die Wichtigkeit, die ihr ihre jungen Gäste verliehen, und wusste diese auch in klingende Münze umzusetzen.
Die finanziellen Schwierigkeiten ihres Großvaters hatten Lores Sinn für Geld geschärft, und so entging ihr nicht, dass Mrs. Penn Geschenke von den Besucherinnen annahm und diese durch ihre Söhne sofort wieder verkaufen ließ. Als sie Mary darauf ansprach, erklärte diese ihr, ein Geschäft im Viertel habe sich auf diesen Handel spezialisiert.
»Das ist durchaus üblich«, fuhr die junge Engländerin fort. »Es hilft beiden Seiten, das Gesicht zu wahren, so dass niemand so ungehörig sein muss, den Nachbarn für eine Gefälligkeit zu bezahlen. Übrigens profitiere auch ich von dem Besucherstrom, denn ich habe Aufträge für Näh- und Stickarbeiten bekommen, die mich mindestens bis Ostern voll auslasten werden. Die gebotene Entlohnung liegt zum Teil sogar weit über dem üblichen Satz.«
»Das freut mich!« Trotz ihrer Sorgen um Nati war Lore erleichtert, dass die Gastfreundschaft, welche die Penns Nathalia und ihr erwiesen, auch darin ihren Lohn fand.
III.
Am späten Vormittag des dritten Tages kam eine Dame der höheren Gesellschaft zu Besuch, die zu Marys besten Kundinnen zählte. Sie trug ein auffälliges Kruzifix auf ihrem weit ausladenden Busen und hatte einen Rosenkranz um das Handgelenk geschlungen, den sie immer wieder abwickelte, um die Perlen durch ihreFinger gleiten zu lassen. Dabei erkundigte sie sich eingehend nach Lores Schicksal und ihrem Wohlergehen und lud sie dann ein, mit ihr zur Kirche zu fahren, in der die vier Särge mit den toten Nonnen auf ihre letzte Reise warteten.
»Die sterblichen Überreste der armen, frommen Schwestern«, so erklärte sie salbungsvoll, »werden heute Mittag mit einem Sonderwagen der Eisenbahn nach London gebracht. Die Eisenbahngesellschaft hängt extra einen mit Trauerflor geschmückten Wagen an den Ein-Uhr-Mittagszug an. In Stratford, einem Stadtteil von London, gibt es ein Franziskanerkloster, und auf dem dortigen Friedhof werden die Nonnen – Gott schenke ihnen die ewige Seligkeit! – morgen nach einer großen Trauerfeier zur letzten Ruhe gebettet. Unser Priester, Hochwürden Emend, will vorher noch einen Trauergottesdienst für unsere Gemeinde abhalten, da die meisten von uns nicht mit nach London fahren können.«
Lore sah die Dame verblüfft an. »Ich dachte immer, die Katholiken würden in England verfolgt und müssten sich vor der Obrigkeit in Acht nehmen. Das habe ich jedenfalls bei uns zu Hause in der Kirche gelernt! Wie kommt es dann …«
Die Dame lachte so undamenhaft laut, dass Nati zu weinen begann. »Ach, mein liebes Mädchen, die Zeiten sind längst vorbei. Schließlich leben wir im neunzehnten Jahrhundert und nicht mehr im Mittelalter! Heutzutage tragen wir Katholiken den Kopf genauso hoch wie die Anglikaner. Du wirst sehen, hier in England wird dir niemand wegen deines Glaubens Schwierigkeiten machen. Hier bist du in Sicherheit vor dem bösen Bismarck, der euch Katholiken in Deutschland verfolgt!«
Lore murmelte eine höfliche Antwort, denn sie hatte kein Interesse daran, die Ansichten der gewichtigen Dame zu korrigieren zu versuchen. Dies war ihr schon bei den Frauen des Viertels nicht gelungen.
Schließlich kam die Dame auf den Trauergottesdienst zu sprechen,der nicht nur für die Nonnen, sondern für alle Toten der
Deutschland
abgehalten
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