Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
lasst Euch warnen: Ihr werdet das Ziel erschöpft erreichen, und unterwegs werdet Ihr Euch ab dem dritten Tag wünschen, es möge schnell vorbei sein.«
»Könnte diese Liste für die Diebe von Bedeutung sein? Wenn Ihr sagt, dass es nicht üblich ist, die Rückseiten so vollzuschreiben ? Das bedeutet ja, dass nicht jedes Blatt solche Listen trägt, weil es zwar die Vorderseiten mehrfach gibt, aber die Rückseiten wären etwas Einmaliges. Was hätten Eure Gegner für einen Vorteil, wenn sie wissen, welche Handwerksfirmen für Euch arbeiten?«
Lange blickte die Witwe Trine Deichmann an.
Dann sagte sie: »Im Grunde bedeutet es nichts. Es sei denn, man will nicht nur beobachten, sondern in die Geschicke eingreifen. Immer noch. Es geht alles wieder von vorne los. «
41
Poulsen regte sie seit der ersten Minute auf. Erst weigerte er sich, Platz zu nehmen. So was konnte Anna Rosländer gerade ab. Männer, die sich wichtig nahmen!
Dann war der Mann unfassbar blond. Nicht nur die Kopfhaare, die von einem leuchtenden Blond waren, als würde sich in ihnen Tag und Nacht das Sonnenlicht fangen. Auch der Bart war blond, obwohl er einen Vollbart trug, wirkte er, als wäre er rasiert. Die Körperhärchen waren blond, Anna sah nur die Haare auf Fingern und Handrücken, aber sie hatte keinen Zweifel, dass sich das unter der Kleidung fortsetzen würde. Die Wimpern waren blond, die Augenbrauen sahen aus, als habe man sie abgeschnitten. Unwillkürlich stellte sich Anna vor, wie er wohl unter den Armen und um das Geschlecht aussehen würde. Blond, nichts als blond.
Die Haut, kein Wunder, passte dazu. Heller Teint, überall Sommersprossen. Blass war er nicht, dazu hielt er sich zu oft im Freien auf. Aber seine blonde Haut nahm von Wind und Sonne keine braune Tönung an, wirkte lediglich eine Nuance weniger blond.
Seine Augen waren Wolfsaugen, grau, hell, durchscheinend. Der erste Eindruck war nicht: blau, braun oder grau. Er war blond.
Dazu kam der Aufzug. Er hatte einen Schneider aufgetrieben, der ihm hellbraune, ins Gelbe mäandernde Farben besorgt hatte. Und dann die Schuhe! Halbhohe Stiefel aus Seehundfell.
Poulsen war jünger, als Anna gedacht hatte. Er war auch kleiner. Der ganze Mann wirkte wenig männlich. Sein Deutsch war so unernst wie das aller Dänen. Aber was er zu sagen wusste, war von der Qualität, wegen der ihn Anna hergebeten hatte. Poulsen war der Mann, den man in Lübeck engagierte, um rätselhafte Fälle zu klären. Wenn sich vor Gericht ein Fall verknotete oder die Ermittlungen keine vielversprechenden Hinweise lieferten, trat Poulsen auf den Plan. Er besaß kein Mandat außer seiner Kompetenz. Beim Senat der Stadt hatte er sich mit den Worten eingeführt: »Ich will Eure Augen und Ohren sein, damit Ihr das, was ich sehe und höre, später bedenkt.«
Poulsen stammte aus einer Familie, die zur Hälfte Händler, zur Hälfte Gelehrte hervorzubringen pflegte. Vor die Wahl gestellt, sich für das eine oder andere zu entscheiden, hatte er das Dritte gewählt. Er war in den Süden gegangen, um rätselhafte Ereignisse zu untersuchen. Poulsen verlangte Geld, nicht für sich, sondern für seine Schwadron. So nannte man die Schar von Bettlern, mit der er zum Ort des jeweiligen Geschehens zog, um alles penibel abzusuchen.
Als der blonde Mann der Witwe gegenüberstand, dachte sie: Warum tust du dich nicht mit Trine Deichmann zusammen? Die steckt ihre Nase in jeden Haufen.
Anna sagte: »Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid.«
»Dankt mir lieber dafür, dass ich trotz der Drohungen gekommen bin.«
Bürger, deren Namen er angeblich nicht kannte, hatten ihm den Rat gegeben, den alten Fall nicht aufzuwärmen, sondern sich auf seine aktuellen Fälle zu konzentrieren. Schließlich sicherten sie Poulsens Lebensunterhalt, und es müssten in der Zukunft ja nicht so viele Fälle bleiben wie zurzeit.
»Wer kann etwas dagegen haben, dass eine Frau wissen will, wie ihr Mann starb?«
»Wenn auch etwas spät.«
Sie funkelte ihn an. War das Kritik? An ihrer Liebe zu Rosländer? Eine sicherere Methode, sie gegen sich aufzubringen, gab es nicht.
Anna erklärte dem Besucher, warum sie ihn erst jetzt hören wollte. Bisher sei sie wie alle anderen von einem Unfall ausgegangen. Der betrunkene Reeder auf einer seiner Touren, vielleicht hatte er sich mit einem Zechkumpan gekabbelt. Vielleicht war es zu einer Prügelei gekommen, aber der Wille zu töten – nein, das wäre ein abwegiger Gedanke gewesen. Eine der üblichen Protzereien
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