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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erwartungsvollen Seufzen ritt sie über die Kuppe. Zügelte das Pferd. Holte tief Luft.
    Vor ihr lag das Kastell.
    Es hatte alles und nichts mit dem Stich gemein, den sie aus dem Buch in Grimauds Bibliothek gerissen hatte. Es mochte achteckig sein, aber das ließ sich von hier aus schwerlich erkennen. Alles, was sie im ersten Moment sah, war eine mächtige Mauer unter einem Felsüberhang, der hundert Meter breit und gut zwanzig Meter hoch sein mochte, ein gigantischer Wulst aus Stein, der aussah, als habe er sich wie etwas Lebendiges über die Festung geschoben. Die Fes-tung selbst war langgestreckt und maß von links nach rechts etwa achtzig Meter. Tiefe besaß sie weit weniger, nur so viel, wie die Höhlung im Berggipfel Platz bot. Da die felsige Rückwand im Mondlicht zu sehen war, schätzte Aura, dass sie nicht tiefer als dreißig Meter in den Berg hineinreichte. Eine Krone aus Zinnen, die sich wie die Arme des Templerkreuzes an den Enden verbreiterten, bildete den Abschluss der Festungsmauer. Es gab zahllose Schießscharten, aber nur ein einziges Tor. Von weitem sah es aus, als wären die Flügel geschlossen, doch beim Näherkommen erkannte Aura, dass sie einen Spalt weit offen standen. Genug, um sich hindurchzuzwängen. War derjenige, der sie hierher bestellt hatte, schon vor ihr hier gewesen? Hatte er Vorbereitungen für ihre Ankunft getroffen, ihr womöglich gar eine Falle gestellt?
    Sie ritt bis auf zwanzig Meter an das Tor heran, dann stieg sie ab und führte das Pferd am Zügel. Es gab keinen Burggraben. Im Schatten des Felsüberhangs wuchs das Gras spärlicher, und bald schon klapperten die Hufe über bloßen Stein. Die Geräusche wurden von der Felswand zurückgeworfen, die sich schwarz wie Gewitterwolken hinter der Festung erhob. Aura fragte sich, wie die Menschen, die einst hier gewohnt hatten, mit der Tatsache hatten leben können, dass jedes Wort, jeder Laut verzerrt von den Felsen widerhallte.
    Das Mondlicht erlosch im selben Moment, da sie unter den Überhang trat. Die Hälfte des Sternenhimmels wurden von einer schwarzen Masse aus Stein geschluckt. Aura hatte einen feuchten oder erdigen Geruch erwartet, doch zu ihrem Erstaunen bemerkte sie nichts dergleichen. Der Wind fing sich unter den Felsen, jammerte in Spalten und Schrunden. Es war ihr ein Rätsel, warum die Templer hier einen Außenposten errichtet hatten. In diesen Bergen gab es nichts zu gewinnen, nichts zu verteidigen.
    Ein Versteck, dachte sie. Natürlich. Wo sonst, als in einer solchen Gegend, konnte man eine Anlage wie diese errichten, ohne dass jemand misstrauisch wurde. Sie fragte sich, ob Nestor schon damals, zu Beginn seines mehr als sechshundertjährigen Lebens, hier gewesen war. Kannte er diesen Ort aus seiner Vergangenheit als Templer? Hatte er sich deshalb daran erinnert, auf der Suche nach einem Ort für seine mörderischen Experimente?
    Sie schauderte bei dem Gedanken an all die Mädchen, die in dieser Festung ihr Leben gelassen hatten. Einen Moment lang hielt sie inne und nahm den kleinen Revolver aus einer der Satteltaschen. Sie vergewisserte sich, dass er geladen war, dann ließ sie die Zügel des Pferdes los. Mit einem Klaps scheuchte sie es zurück auf die Wiese, damit es dort grasen konnte. Kauend sah das Tier zu, wie Aura die Lampe entzündete und durch den Spalt in die Festung trat.
    Hinter dem Tor lag ein Hof, viel enger, als sie erwartet hatte. Rund herum stand eine verschachtelte Ansammlung von Gebäuden, keines höher als zwei Stockwerke, sodass die Dächer nicht über die Wehrmauern hinausragten. Mehrere Bogenportale und steile Treppen führten vom Hof in die Häuser. Der erste Eindruck war so unübersichtlich, dass Aura instinktiv einen Schritt zurück machte. Dabei verschob sich der Lichtkreis der Laterne, die Schatten verzerrten sich, und die Mauern erwachten zum Leben. Wände wuchsen empor, und schwarze Fensterschlitze öffneten sich wie Augen eines schläfrigen Urzeitriesen.
    Bleib ruhig. Reiß dich zusammen.
    Ihre Finger schlossen sich fester um den Griff, als sie die Laterne hob und langsam in einem Halbkreis herumschwenkte. Die Dunkelheit streckte und dehnte sich hinter Winkeln und Schneisen, doch jetzt waren es tatsächlich nur Schatten, die sich regten. Der Mond schien nicht hier herein, die Laterne war die einzige Lichtquelle. Sie reichte aus, um den Hof zu beleuchten, doch die Eingänge und Fenster wirkten im Kontrast dazu noch dunkler.
    Langsam überquerte sie den Hof und ging auf den Eingang des

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