Die Ballade der Lila K
Dienstreisen in der Zone betreffen. Manche behaupten, dass sie nur Tarnung sind für illegale Aktivitäten, Handel mit …«
» Manche behaupten. Wie können Sie nur so tief sinken, Fernand? Dass Sie Gerüchten Glauben schenken?«
Das ließ ihn kalt.
»Bislang hatte Milo Templeton im Ministerium einflussreiche Fürsprecher, aber jetzt dreht sich der Wind. In den höchsten Machtsphären passiert so was schnell, musst du wissen.«
»Was genau wollen Sie mir eigentlich sagen, Fernand?«
»Ich will dich nur warnen. Dein Monsieur Templeton könnte bald gewaltigen Ärger bekommen. Hör auf mich, Lila. Nimm dich vor diesem Mann in Acht!«
Ich habe ihn wortlos angesehen. Plötzlich erkannte ich, wer da vor mir stand: ein armer, zutiefst einsamer Kerl. Ein Mann, dem es weder gelungen war, seine Frau zu halten noch sein Kind, noch seinen Kater. Dafür konnte er sich gewisser Verbindungen zum Ministerkabinett rühmen. Toller Erfolg.
Ich hätte ihn deswegen mit Verachtung strafen können, mit den Worten: Was sind Sie doch für ein jämmerlicher Versager, Fernand, aber ich brachte es nicht fertig. Weil ich ihn im Grunde verstehen konnte: In seinem Leben hatte sich schon so lange nichts mehr bewegt; kein Wunder, dass er es nicht ertragen konnte, wenn das Leben anderer in Bewegung geriet.
Wir gingen zu Fuß nach Hause, Seite an Seite, stumm, beide gleichermaßen bedrückt, weil der Abend so desaströs geendet hatte. Als wir das Gebäude erreichten, lud er mich immerhin noch auf einen Schlummertrunk zu sich ein. Aber ich lehnte ab, mit der Begründung, ich sei zu müde. Er beharrte nicht darauf. Und ich ging schnurstracks in meine Wohnung.
In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Ich dachte über mein Leben nach, über die Mühe, die es mich gekostet hatte, bis hierher zu kommen. Ich dachte an alle, die mir, manchmal unwissentlich, geholfen hatten. Monsieur Kauffmann, Lucienne, Fernand und Justinien. Ich dachte an Sie. Ich fühlte mich stark und stolz, endlich bereit: Inzwischen konnte ich allein in der Menge unterwegs sein, die U-Tube nehmen, den Krach und das Eingepferchtsein in den Zügen ertragen, den Gestank, das gleißende Licht, das zuweilen in den Tunneln aufblitzte. Ich war zwanzig Jahre alt, ich war frei, und bald wäre ich am Ziel.
Die Zone
Das Datum hatte ich lange im Voraus festgesetzt: Sonntag, 23 . Oktober, vier Tage nach meiner Mündigsprechung. Das war auch ungefähr das Einzige, dessen ich mir bei dieser Reise sicher sein konnte. Was meine Mutter anging, machte ich mir keine Illusionen. Die Chancen, sie schon an jenem Tag zu sehen, standen gleich null. Sämtliche Studien, die ich gelesen hatte, sagten im Prinzip dasselbe: Je länger die Haft andauert, desto seltener nutzen die Häftlinge die öffentlichen Besuchszimmer. Zunächst sind sie froh, Ansprechpartner zu finden. Danach verlieren sie meist die Lust, ziehen sich nach und nach vollkommen in sich selbst zurück, verkriechen sich wie Schnecken, die ihr Gehäuse mit einer dicken Schleimschicht versiegeln. Sie geben einfach auf. Meine Mutter war bereits seit vierzehn Jahren eingesperrt und hatte sicher längst die Phase des Verstummens erreicht.
Das brachte mich jedoch nicht von meinem Vorhaben ab. Ich wollte mich zumindest ihrem Gefängnis nähern, mit eigenen Augen sehen, wo sie eingesperrt war, jedes Fenster einzeln absuchen. Ihr plötzlich so nahe zu sein wäre fast so etwas wie ein Wiedersehen, trotz der Gitter, Mauern und Wachtürme. Außerdem bestand die, wenn auch äußerst geringe, Chance, sie im Besuchszimmer anzutreffen, und die konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Ich bin mit der U-Tube bis zur Endhaltestelle am Südbahnhof gefahren. Die ganze Strecke über saß ich schön aufrecht auf meinem Sitz, hielt die Augen geschlossen und die Luft an. Ich habe nur etwa zwanzigmal Atem geschöpft.
Beim Verlassen der Tube musste ich mir einen Weg durch die Scharen von Gastarbeitern bahnen, die aus der Gegenrichtung herbeiströmten. Das war zur Stoßzeit nicht anders zu erwarten gewesen, und so geriet ich auch nicht in Panik.
Ich lief in aller Ruhe zum Grenzübergang. Die Prozedur kannte ich in- und auswendig. Es würde keine bösen Überraschungen geben. Und ich tat ja auch nichts Verbotenes.
Am Checkpoint füllte ich das Formular fein säuberlich aus. Bei der Rubrik Reiseanlass kreuzte ich das Kästchen Tourismus an und ging anschließend zum Schleusenausgang, der von einem Automaten kontrolliert wurde. Ich schob das Formular zusammen mit meinem
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