Die Blueten der Freiheit
Dienstbotengang.
Er streckte die Hand aus und packte mich ruckartig an den Haaren.
»Aua!« Ich legte eine Hand um sein Handgelenk.
»Dein Vater hat noch immer nichts von sich hören lassen. Du glaubst doch wohl nicht noch immer, dass er dich retten wird und mir die Spitze liefert?«
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.
»Du wirst dich selbst retten müssen. Verstehst du das? Ich kann dafür sorgen, dass du hier ein angenehmes Leben führen kannst. Ich kann es dir aber auch zur Hölle machen.«
»Bitte …«
»Ich verrate dir, was ich von dir verlange … Du musst nur noch eine Sache für mich erledigen.«
Was sollte ich denn noch für ihn tun? »Ich habe doch bereits alles getan, was Ihr wolltet.« Ich konnte bloß flüstern, solche Schmerzen verursachte mir sein Griff.
»Und es hat nichts genützt. Es wird bloß für mich vorgesorgt werden. Wenn ich die Spitze nicht bekomme, dann bleibt mir nur noch eine Wahl. Wenn ich den Entschluss meines Vaters nicht rückgängig machen kann, dann muss sichergestellt werden, dass es keinen Erben geben wird.«
»Wer kann schon sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden wird?«
»Ich kann es sagen. Und ich werde es dir sagen. Wird es ein Mädchen, darf es am Leben bleiben … Wird es ein Junge, muss er sterben.«
»Ihr könnt doch nicht …«
»Mein Vater wird mich nicht in die Nähe dieses verdammten Balgs lassen. Er ist vielleicht alt und schwach, aber er ist gerissen. Also wirst du das erledigen müssen.«
Er … Er erwartete von mir, dass ich das Kind tötete? »Das kann ich nicht. Das werde ich nicht tun!«
Er ließ meine Haare los, doch er ließ mich nicht an sich vorbei. »›Man gebe mir sechs Zeilen, geschrieben von dem redlichsten Menschen, und ich werde darin etwas finden, um ihn aufhängen zu lassen.‹ Beschreibt dieses Zitat in etwa die Zwickmühle, in der sich dein Vater befindet?«
Meine Schultern senkten sich unter der Last dieser Drohung.
»Weißt du, wer diesen Satz einst gesagt hat?«
Ich wusste es. Jeder wusste es.
»Ich glaube, es war Kardinal Richelieu selbst, der Erste Minister des Königs. Und ich bezweifle, dass dein Vater der redlichste Mensch der Welt ist.«
Ich wich entsetzt vor ihm zurück. »Ihr wollt … Ich meine, falls Ihr beabsichtigt, dass ich …« Ich fühlte mich, als müsste ich mich übergeben. »Ich kann so etwas nicht tun.«
Er kam immer näher. »Ich auch nicht. Ich kann kein Blut sehen. Das konnte ich noch nie.«
»Ich kann nicht …«
Er packte mich am Arm. »Es gibt Tausende Wege, jemanden zu töten. Wenn du das Kind nicht erstechen kannst, dann musst du es eben ersticken. Oder lass es draußen im Garten liegen, damit die Wiesel es holen.«
»Das werde ich nicht.«
»Oh doch, ich denke, das wirst du.« Er ließ mich nicht an sich vorbei, stattdessen hob er mit der anderen Hand mein Kinn hoch, so dass ich keine andere Wahl hatte, als ihm in die Augen zu sehen. »Komm schon. Wir sind uns doch ähnlich, wir beide. Niemand liebt uns. Und warum sollte es auch jemand tun? Ich bin der Sohn eines hartherzigen alten Bastards und seines Weibsstücks. Und du bist die verachtungswürdige Tochter, die ihren Vater in den Ruin getrieben hat. Ich hätte meinem Erbe bereits zehnmal abgeschworen, wenn man mir bloß einmal gesagt hätte, dass man mich so liebt, wie ich bin. Aber mein Vater hat mich angebrüllt, und meine Mutter … Nun, letzten Endes spielt das alles keine Rolle. Wir sind noch am Leben, wir beide, und wir sollten eine Entschädigung für die Schmerzen bekommen, die wir erlitten haben.«
Eine Entschädigung für unsere Schmerzen … Schmerzen, die so groß waren. Das Leben bereitete solch große Schmerzen.
»Wir verstehen uns doch, nicht wahr?«
Es steckte zu viel Wahrheit in seinen Worten, und seine Augen blickten zu traurig, um den Blick abzuwenden. Seine Schönheit war verführerisch, so böswillig er auch war. Es war seine Schönheit, die einen dazu veranlasste, ihm Glauben zu schenken. Er hatte recht: Wir verstanden einander tatsächlich. Er war vielleicht der einzige Mensch im ganzen Königreich, der verstand, was ich zu ertragen hatte. Der einzige Mensch, der verstand, welche Auswirkungen die Schuld auf die Seele eines Menschen haben konnte.
Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog, als ich die glühende Wut in seinen Augen sah. Und was spielte es schon für eine Rolle? Es war zu spät. Vater kam zu spät. Alexandre kam zu spät. Mir blieb keine andere Wahl mehr.
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