Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
Türöffnung kam, und die Tränenspuren, die sich über seine Wangen zogen, glänzten ebenfalls.
»Ich dachte zuerst, sie sei tot«, sagte er mit einer ganz normal klingenden Stimme. »Dann sah ich, dass sie noch atmete. Von den Kerlen war keiner mehr hier drin.« Er wies mit einem Kopfnicken auf die Wiege. »Das Kind ist tot.« Neue Tränen traten in seine Augen, aber seine Stimmlage veränderte sich nicht.
Corto kauerte sich neben der Frau und Verruca nieder. Er packte einen Zipfel des Kittels und hob ihn hoch.
»O mein Gott«, sagte Enrico. Jemand anderer hustete. Lorenzo fühlte eine Hand, die mit eiskalten Fingern über seinen Rücken strich. Die Frau schlug die Augen auf und begann zu stöhnen. Ihre Blicke irrten in der Hütte umher, und jeder wusste, was sie suchte: das Kind. Unwillkürlich drängten sie alle näher heran, um die Wiege zu verdecken.
Was dann geschah, bildete in Lorenzos Geist eine Einheit, als wäre alles gleichzeitig innerhalb einer Sekunde geschehen, und vielleicht war es das auch. Er sah die zusammengefaltete Landsknechtshose mit den Schlitzen und dem bunten Innenfutter an der Wand hinter der Wiege liegen, fast unsichtbar im Dunkeln, halbhohe grobe Schuhe standen ordentlich daneben, aus einem der Schuhe ragte der Griff eines Hiebmessers, über den anderen waren Beinlinge gelegt, der Besitzer der Kleider musste einen Sinn für Ordnung und Symmetrie besessen haben. Dann blitzten die Bilder des Kampfes vor Lorenzos innerem Auge auf: Keiner der Plünderer war unten herum nackt oder im Hemd in die Schlacht gestürzt, und keiner war barfuß gewesen. Ein plötzliches Scharren aus Richtung der Türöffnung ließ ihn herumfahren, es hätte Fabio oder einer der anderen sein können, doch Lorenzo wusste, es war keiner von ihnen. Der Tote unter dem Fischernetz hatte seine Tarnung abgeworfen und war im Begriff, zur Tür hinauszustürzen, der Tote im Hemd und ohne Schuhe, der gar nicht tot war, so wie es nicht stimmte, dass keiner der Kerle in der Hütte gewesen war. Der Mann hatte sich nur versteckt und tot gestellt, in der Hoffnung, dass seine Kameraden entweder gewannen oder er die Aufregung nach dem Kampf zur Flucht nutzen konnte. Corto drehte sich ebenfalls um, aber Lorenzo hatte schon einen Satz auf den Mann im Hemd zu gemacht. Der Mann riss etwas in die Höhe, was Lorenzo für einen Prügel gehalten hatte, aber er sah, dass es ein Gewehr war, und der Gedanke zuckte durch ihn hindurch: Idiot, die Lunte ist ausgegangen, aus dem Ding kriegst du keinen Schuss abgefeuert. Etwas fiel von hinten auf ihn und riss ihn um. Das Gewehr donnerte mit einem Funkenregen und einer Explosion, die ihnen fast die Trommelfelle sprengte, los. In der Wand, vor der gerade noch Lorenzos Körper gewesen war, entstand ein faustgroßes, zackiges Loch, beißender Rauch wallte auf. Ein Schatten huschte durch die Türöffnung …
Lorenzo wurde bewusst, dass sich das zackige Loch nur deshalb nicht in seinem Körper befand, weil Corto ihn zu Boden gerungen hatte. Die Wut, die in ihm aufschäumte und sein rationales Denken in einem Augenblick wegschwemmte … die Wut darüber, dass der Mann, der das Blutbad unter den Hüttenbewohnern angerichtet hatte, zu entkommen drohte … und die fast noch größere Wut darüber, dass er Corto jetzt sein Leben verdankte, ließ den Gedanken nicht zu, dass das Gewehr nicht hätte losgehen dürfen, weil keine Lunte daran gewesen war, ebenso wenig wie den Gedanken, dass der Schütze sich einfach nur vor der Hütte postieren musste, um jeden zu Boden zu schlagen, der aus der Öffnung sprang.
Lorenzo brüllte auf, schüttelte Corto ab und war mit zwei, drei Sätzen aus der Tür. Das diffuse Nebellicht war grell in seinen Augen, und was er ansah, war in einen roten Schein getaucht. Der Mann im Hemd lag auf der Straße, sein Hexengewehr neben ihm, und versuchte sich wieder aufzurappeln, während er sich noch krümmte. Fabio stand mit geballten Fäusten über ihm und starrte auf ihn hinunter. Als er den Kopf hob, um den heranstürmenden Lorenzo anzublicken, war sein Gesicht kalkweiß.
»Er ist mir direkt vor die …«, begann Fabio.
Lorenzo riss den Kauernden in die Höhe. Seine blinde Raserei verlieh ihm die Kraft, ihn am Hemdkragen zu halten und vor sich herzutragen, bis er mit ihm an die nächste Hüttenwand prallte. Der Mann ächzte. Lorenzos Knie zuckte nach oben, und die Augen des Mannes traten hervor. Lorenzo hielt ihn senkrecht, obwohl seine Beine nachgaben; er krallte eine Faust in
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