Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
müsse.
Nach dieser putzigen Ablenkung wünschte Daniel allen eine gute Nacht und zog sich zurück. Auch Joseph Klem erhob sich und reckte sich zum Zeichen, dass es auch für ihn an der Zeit sei.
»Noch eine letzte Nachtmütze vor dem Zubettgehen?«, fragte Alice Klem Lauritz. Alice Klem sprach eine lustige Mischung aus Englisch und Norwegisch, und Nachtmütze war eine direkte Übersetzung von nightcap und bedeutete Schlummertrunk. Das Wort war Teil des internen Jargons in Finse.
»Ja, gerne ein Glas Wein«, erwiderte Lauritz und staunte über sich selbst.
Alice Klem oder, wie er sie im Augenblick sah: Lady Alice erhob sich mit einem freundlichen Lächeln und ging in die Küche, um Wein zu holen. Die Herren wünschten sich eine gute Nacht.
Früher oder später musste er mit ihr darüber reden, wenn jemand ihm Auskunft geben konnte, dann sie. Er beschloss, dass jetzt der richtige Augenblick gekommen war.
Sie kehrte mit einer Flasche des gängigen Eisenbahnerrotweins zurück und schenkte zwei Gläser ein.
»Sie wollen mich etwas fragen?«, sagte sie, als sei das eine Selbstverständlichkeit, als sie beide ihre Gläser hoben.
»In der Tat«, erwiderte Lauritz, obwohl er seinen Vorstoß bereits bereute. »Es ist vielleicht indiskret, aber ich
habe den Eindruck, dass Sie eine Person sind, mit der ich über solche Dinge sprechen kann.«
»Welche Dinge?«
Also begann er zu erzählen. Eine junge, adelige Dame aus einem kultivierten europäischen Land verliebt sich in einen armen norwegischen Eisenbahningenieur. Der Vater der Dame ist aus verständlichen Gründen gegen diese Mesalliance. Er stellt finanzielle Forderungen, die der junge Mann vermutlich nie wird erfüllen können. Aber wenn er dann doch wider Erwarten …
»Danke, das genügt!«, sagte Alice Klem und hob die Hand, um zu signalisieren, dass eine Grenze erreicht war. »Ich kenne meine eigene Geschichte. Warum wollen Sie darin herumgraben?«
Sie sah alles andere als amüsiert aus, um dieses englische Understatement zu verwenden, dachte Lauritz. Aber es gab kein Zurück.
»Weil es meine Geschichte ist«, sagte er. »Es geht nicht um Lady Alice, sondern um eine gewisse hochwohlgeborene Ingeborg von Freital. Die ich über alles in der Welt liebe.«
»Erzählen Sie! Erzählen Sie mehr!«, forderte ihn Lady Alice auf.
Sie war eine energische Frau, die alles andere als aristokratisch wirkte. Ihr dunkles Haar war in einem festen Knoten hochgesteckt, ihr Oberkörper hatte etwas Quadratisches, und ihr großes Gesicht hatte grobe Züge und breite, schwarze Brauen. Wenn etwas sie empörte, konnte sie herrisch und fast ein wenig bösartig schauen, wenn sie jedoch über einen Scherz lächelte, wirkte sie herzlich und schelmisch. Jetzt sah sie sehr interessiert aus.
Lauritz hatte noch nie einem anderen Menschen ausführlich von Ingeborg erzählt, nicht einmal seiner eigenen Mutter, und jetzt erwies es sich als schwerer, als er erwartet hatte.
Als Erstes strich er ihre intellektuellen Qualitäten heraus, ihre radikalen Ansichten zur Stellung der Frau in der Gesellschaft, dem Frauenwahlrecht und der zukünftigen Eroberung der Wissenschaften durch die Frauen. Das Thema Sexualität mied er. Die finanziellen Möglichkeiten, die sich ihm erst unlängst eröffnet hatten, umriss er sehr knapp und vielleicht etwas zu bescheiden. Alice Klem hörte mit einem freundlichen und ironischen Lächeln aufmerksam zu.
»Haben Sie heimlich miteinander geschlafen?«, fragte sie mit erschütternder Direktheit, als Lauritz ins Stocken kam.
»Ja, das haben wir«, antwortete Lauritz heftig errötend.
»Ausgezeichnet! Alles wird gut. Interessanter Gedanke, dass es bald zwei Ladys in Finse geben könnte. Wenn bloß die Klassenkämpfer da draußen nichts davon erfahren. Egal. Die Lösung des Problems ist ganz einfach. Sie soll dem tyrannischen Vater entfliehen, sobald sie die Volljährigkeit erlangt hat, und heiraten. Das kann teuer werden, also muss man zwischen Liebe und Enterbung abwägen. Aber diese Möglichkeit haben Sie vermutlich in Betracht gezogen?«
»Durchaus. Und Ingeborg ist bereits mündig«, antwortete Lauritz.
»Warum haben Sie dann noch nicht geheiratet?«
»Weil ich bei der Bergenbahn bleiben muss, bis sie fertig ist. Das ist eine Ehrensache.«
»Unsinn! Alles, was die Männer über Ehre faseln, ist
Unsinn. Findet sich denn Ingeborg etwa mit solchem Gerede ab?«
»Ja, das tut sie. Sobald ich nach Beendigung der Arbeiten das Fjell verlasse, kann ich ihr ein anderes
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