Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
größte Augenblick seines Lebens war ein anderer und lag in greifbarer Nähe, falls Ingeborgs und seine Pläne Wirklichkeit würden. Aber der größte Moment als Ingenieur?
Ja, zweifellos. Der blaue Himmel, der weiß schäumende Wasserfall, der graue Granitbogen über dem Abgrund.
In der Ebene hätten er und jeder andere Ingenieur eine solche Brücke in einem Jahr gebaut. Hier oben herrschten ganz andere Bedingungen. Acht Monate Winter, Schneestürme mit Windgeschwindigkeiten von 40 Metern in der Sekunde. Wasser, das im Mauerwerk zu Eis gefror und alles zum Einsturz bringen konnte.
Soweit er wusste, gab es weltweit nichts Vergleichbares. Die Amerikaner hätten diese Brücke mit ihren chinesischen Sklaven nicht erbauen können. Der Bau der Kleivebrücke hatte kein Menschenleben gekostet. In vier Jahren kein einziges.
Er versuchte sich diesen Augenblick einzuprägen, ihn als
bewegtes Bild im Kopf zu behalten, das er später im Leben jederzeit würde abrufen können.
Jemand klopfte ihm so fest auf die Schulter, dass er unwillkürlich einen Schritt nach vorn taumelte.
»Das haben wir verdammt gut gemacht, nicht wahr, du Grünschnabel!«, brüllte Johan Svenske.
»Jawohl, du Bahnarbeiterkanaille, das haben wir wirklich verdammt gut gemacht«, antwortete Lauritz. »Ich habe vier Flaschen Whisky in meinem Rucksack für heute Abend.«
»Vier Flaschen? Doppelte Ration, und noch dazu an einem Mittwoch. Aber die Arbeit muss erst fertig werden, vorher keinen Tropfen. Oder?«
»Ja. Das klingt weise. Setz dich, ich habe einen Vorschlag.«
Sie setzten sich auf einen flachen Felsen, der einige Meter über den wilden Fluss ragte, und sahen nochmals verzückt zur Brücke hinauf.
»Was hast du für Pläne, Johan, jetzt, wo die Bergenbahn bald ihren Verkehr aufnehmen wird?«, fragte Lauritz.
»Weiß der Teufel«, antwortete Johan und kratzte sich seinen schwarzen Vollbart. »Ich bin und bleibe eine reinrassige Bahnarbeiterkanaille, weißt du. Ich ziehe weiter, und damit hat es sich dann. Das Leben geht weiter, bis es zu Ende ist.«
»Ich würde dich gerne in Bergen fest anstellen«, sagte Lauritz, sehr gespannt, welche Reaktion ihn erwartete. Alles Mögliche war denkbar.
Johan starrte ihn verblüfft an, antwortete jedoch nicht. Stattdessen spuckte er seinen Snustabak aus und suchte nach seiner Dose, um sich eine neue Prise unter die Oberlippe
zu schieben, während er Lauritz durchdringend anschaute, als wolle er herausbekommen, ob das Angebot ein Scherz war.
Dass er sich eine weitere Prise genehmigte, war ein sicheres Zeichen dafür, dass er nachdenken musste.
»Festanstellung? Pfui Teufel! Mir ist Akkord lieber, wie du weißt«, antwortete er schließlich und spie tabakbraune Spucke in den weiß schäumenden Fluss.
Lauritz deutete dies als Eröffnung der Verhandlung.
»Was verdienst du in einem Monat hier oben?«, fragte er.
»Bei angemessenem Akkord und nachgiebigem Granit bringe ich es auf siebenhundert Kronen. Das ist nicht schlecht, das schafft man nicht mit einem festen Blutsaugerlohn.«
»Doch, das könnte man«, wandte Lauritz vorsichtig ein. Er bewegte sich auf unbekanntem Terrain. »Ich biete dir als Vormann eines Bauunternehmens einen Monatslohn von neunhundert Kronen, und das zwölf Monate im Jahr. Das heißt, auch wenn es stürmt und so stark regnet, dass man in der Baracke bleiben muss. Die Sache hat nur einen Haken.«
»Und der wäre?«, fragte Johan misstrauisch.
»Du müsstest in Bergen wohnen. Die Firma kümmert sich um eine Wohnung.«
»Dann werde ich doch noch ein richtiger Norweger!«
»Tja, sieht so aus. Ich sehe eigentlich keine Nachteile darin, Norweger zu sein.«
Johan lachte und schüttelte den Kopf.
»Nein, aber mir bleibt ja verdammt noch mal keine Wahl«, murmelte er, immer noch gehörig skeptisch.
»Hast du nicht Frau und Kinder?«, fragte Lauritz, obwohl er die Antwort kannte.
»Ja, und ich versorge sie gut, obwohl ich sie viel zu selten sehe. Ich habe eine Frau und zwei Kinder, die fünf und sechs Jahre alt sind.«
»Dann werden die beiden in Bergen eingeschult und schneller Norweger, als du dich’s versiehst. Und nach Feierabend kannst du in der Regel nach Hause zu deiner Familie, zumindest wenn wir in der Bergener Gegend beschäftigt sind. Und dort gibt es viel zu tun«, fuhr Lauritz mit seinem Überredungsversuch fort.
»Und wie sieht die Arbeit aus?«
»Ungefähr wie jetzt. Brücken und Tunnel. Zeichnen und messen, du entscheidest als Vorarbeiter wie bislang, wer in
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