Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
deinem Trupp arbeiten soll.«
»Das klingt nicht schlecht«, meinte Johan nach reiflicher Überlegung. »Bekomme ich auch, was man Urlaub nennt?«
»Zehn Tage bezahlten Urlaub im Jahr und Weihnachten und Ostern.«
»Aber wie zum Teufel ist das möglich? Wie kannst du mir so ein großzügiges Angebot machen?«
»Du kennst doch Horneman & Haugen, die Ingenieurbaufirma, die den Gravehalstunnel und einiges andere gebaut hat? Diese Firma heißt jetzt Lauritzen & Haugen, weil mir ein großer Teil von ihr gehört. Ich brauche Leute wie dich. Die Bahnarbeiter von der Bergenbahn sind die besten, und von denen bist du einer der besten. Deswegen guter Lohn, Wohnung und Urlaub, so kann deine Zukunft aussehen.«
»Du bist also Kapitalist geworden?«
»Ja, so könnte man sagen, Johan. Aber ich bin ein Kapitalist
des neuen Jahrhunderts. Ich bin nicht nur für das allgemeine Stimmrecht und das Stimmrecht der Frauen und …«
»Was? Die Weiber sollen wählen?«
»Ja, das finde ich. Aber immer mit der Ruhe, Johan. Denk über mein Angebot nach, denk daran, dass wir auf immer Freunde sind, weil wir diese Brücke zusammen gebaut haben, wie sie noch niemand vor uns gebaut hat. Aber ich will, dass wir noch weitere Brücken bauen. Und bedenke, was das für deine Familie bedeutet und dass ich dir genauso nützen kann, wie du mir nützt.«
Johan legte den Kopf auf die Knie und dachte angestrengt nach. Er überlegte vielleicht eine halbe Minute, die Lauritz unerträglich lang erschien, dann richtete er sich auf und streckte seine Riesenpranke aus.
»Hier hast du meine Hand drauf, verdammter Kapitalist!« , sagte er breit lächelnd mit tabakbraunen Zähnen. Und wie immer versuchte er, Lauritz beim Händedruck die Hand zu zerquetschen.
XVII
INGEBORG
Kiel, Sommer 1907
Die zwei Freundinnen saßen auf dem Vordeck der Hohenzollern , der Privatjacht des Kaisers, und sprachen unbeschwert über Dinge, die ihre nähere Umgebung zutiefst schockiert hätten. Jede von ihnen plante einen Skandal.
Beide gehörten zur feinen Gesellschaft bei der Kieler Woche und verfügten daher über eine ständige Einladung auf die Hohenzollern , auf der es die allerbesten Aussichtsplätze gab. Man saß erhöht und konnte den gesamten Seglerhafen überblicken bis zu der Reihe mit den grauen Kriegsschiffen, die mit bunten Signalflaggen geschmückt vor Anker lagen, und weiter die Pier entlang, an der die größten Rennjachten vertäut waren – die fünf kaiserlichen ganz außen. Sie hatten soeben mit angesehen, wie die amerikanische Jacht, die in diesem Jahr zum ersten Mal teilnahm, zu schnell durch die Hafeneinfahrt gesegelt war und beim Anlegen Mühe gehabt hatte. Je später man eintraf, desto enger wurde es. Die Engländer, die eine Stunde früher eingetroffen waren, hatten schon Schwierigkeiten gehabt. Jetzt war nur noch ein für die Teilnehmer der Jachtklasse reservierter Platz unbesetzt. Ingeborg übte sich in
Selbstbeherrschung und ließ mit keiner Miene ihre Nervosität erkennen. Sie versuchte stattdessen, sich auf ihren Skandal zu konzentrieren. Vielleicht war es für lange Zeit das letzte Mal, dass sie sich sahen.
Christa wollte am nächsten Tag türmen, und zwar während der Regatta, wenn sich ihr Vater mit seiner Walküre auf See befand und nicht eingreifen konnte. Aber nicht nur deswegen war der Zeitpunkt gut gewählt. Genau wie ihre Schwestern hatte Christa sehr viel Gepäck dabei. Kleider würde sie in Zukunft brauchen können, allerdings eher, um sie zu versilbern, wenn sie zu ihrem avantgardistischen Künstler nach Berlin zog. Dasselbe galt auch für den Schmuck, den sie nach Kiel mitgenommen hatte, da von ihr erwartet wurde, dass sie bei jedem Souper andere Kleider und anderen Schmuck trug und strahlend aussah.
Dass ein Automobil mit Fahrer vor dem Hotel Kaiserhof hielt und eine junge Dame mit Schleier und großem Gepäck einstieg und verschwand, würde in dem allgemeinen Gedränge vor dem Entree keine Aufmerksamkeit wecken. In Hamburg würde sie dann den Zug nach Berlin nehmen, wo Franz sie vom Bahnhof abholte.
Sie waren den Plan hundertmal durchgegangen, zumindest kam es ihnen so vor, ohne etwas zu entdecken, das schiefgehen könnte. Falls sie durch einen unglücklichen Zufall auf irgendwelche Verwandten oder Bekannten traf, würde sie einfach einen Schwächeanfall vortäuschen und den Chauffeur bitten, den Wagenschlag zu schließen. Anschließend spielte es dann keine Rolle mehr, wie sich die allgemeine Entrüstung am Abend gestaltete,
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