Die Brüder Karamasow
Mann, der in unserer Stadt ganz einsam für sich lebte, anscheinend einem politischen Verbannten; er war aber wegen Freigeisterei aus Moskau in unsere Stadt verbannt. Dieser Verbannte war ein bedeutender Gelehrter und angesehener Philosoph, der an der Universität gelehrt hatte. Aus irgendeinem Grund gewann er Markel lieb und lud ihn häufig zu sich ein. Mein Bruder war oft abendelang bei ihm, den ganzen Winter über, bis der Verbannte auf seine eigene Bitte wieder in den Staatsdienst nach Petersburg berufen wurde – er hatte wohl hohe Gönner. Es begannen die Großen Fasten, doch Markel wollte nicht fasten. Er schimpfte und lachte darüber: »Das ist ja alles dummes Zeug«, sagte er. »Es gibt gar keinen Gott.« Durch solche Reden versetzte er unsere Mutter und die Dienerschaft in Schrecken – und mich kleinen Knaben natürlich auch. Ich war zwar erst neun Jahre alt, erschrak aber über diese Worte gleichfalls zutiefst. Unsere Dienerschaft bestand nur aus Leibeigenen, vier Personen, die sämtlich auf den Namen eines mit uns bekannten Gutsbesitzers getauft waren. Ich erinnere mich noch, wie unsere Mutter eine von diesen vier, die Köchin Afimia, weil sie lahm und schon recht alt war, für sechzig Rubel verkaufte und an ihrer Stelle eine freie Magd mietete. Und da, in der sechsten Fastenwoche, ging es auf einmal meinem Bruder gesundheitlich schlecht. Er war von jeher kränklich und von schwacher Konstitution gewesen und neigte zur Schwindsucht; von Statur war er nicht klein, aber schmächtig und im Gesicht sehr wohlgebildet. Er mußte sich erkältet haben, und der eilig gerufene Arzt teilte alsbald der Mutter mit, es sei die galoppierende Schwindsucht und er werde das Frühjahr nicht überleben. Die Mutter fing an zu weinen und bat den Bruder mit aller Vorsicht, um ihn nicht zu erschrecken, er möchte sich durch Fasten und Kirchenbesuch aufs Abendmahl vorbereiten und es dann nehmen; er konnte damals nämlich noch ausgehen. Als er das hörte, wurde er ärgerlich und schimpfte auf die Kirche. Dann ließ er sich die Sache jedoch durch den Kopf gehen; er begriff sofort, daß er gefährlich krank war und die Mutter ihn deshalb zur Vorbereitung aufs Abendmahl anhielt, solange er noch die Kraft dazu besaß. Übrigens hatte er selbst schon länger gewußt, daß er krank war; schon vor einem Jahr hatte er einmal bei Tisch zu mir und der Mutter kaltblütig gesagt: »Es ist mir nicht beschieden, lange unter euch auf der Welt zu sein. Vielleicht werde ich kein Jahr mehr leben.« Das hatte er nun richtig prophezeit. Es vergingen drei Tage, dann begann die Karwoche. Und da ging der Bruder vom Dienstagmorgen an zur Kirche. »Ich tu' das eigentlich nur für Sie, liebe Mutter, um Ihnen eine Freude zu machen und Sie zu beruhigen«, sagte er zu ihr. Die Mutter fing vor Freude, aber auch vor Kummer an zu weinen. »Sein Ende muß nahe sein«, sagte sie, »wenn plötzlich so eine Veränderung mit ihm vorgeht!« Aber er konnte nicht mehr lange zur Kirche gehen. Er mußte sich ins Bett legen, so daß ihm schon zu Hause die Beichte abgenommen und das Abendmahl erteilt wurde. Es kamen helle, klare, erquickende Tage; Ostern lag in diesem Jahr spät. Ich erinnere mich, nachts mußte er immer husten und schlief schlecht, doch am Morgen zog er sich an und versuchte, sich in einen weichen Lehnstuhl zu setzen. So habe ich ihn auch im Gedächtnis behalten: Er sitzt mit stiller, sanfter Miene da und lächelt – er selbst ist krank, aber sein Gesicht ist heiter und freudig. Er war seelisch ein ganz anderer Mensch geworden, so eine wunderbare Veränderung war plötzlich mit ihm vorgegangen! Da kam zum Beispiel die alte Kinderfrau in sein Zimmer. »Erlaube, Täubchen, ich möchte bei dir das Lämpchen vor dem Heiligenbild anzünden.« Früher hatte er das nicht zugelassen, sondern das Lämpchen sogar wieder ausgeblasen. Aber jetzt sagte er: »Zünde es an, meine Liebe, zünde es an. Ich war ein Unmensch, daß ich es euch früher verboten habe. Du betest zu Gott, indem du das Lämpchen anzündest, und ich bete zu ihm, indem ich mich über dich freue. Also beten wir zu ein und demselben Gott.« Diese Worte kamen uns seltsam vor. Die Mutter ging auf ihr Zimmer und weinte immerzu; nur wenn sie zu ihm hineinging, trocknete sie ihre Tränen und nahm eine heitere Miene an. »Weine nicht, liebe Mutter, mein Täubchen!« sagte er manchmal. »Ich kann noch lange mit euch leben und mich noch lange mit euch freuen, das Leben ist ja so heiter und fröhlich!« –
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