Die Brüder Karamasow
Strahlen und mit ihnen die stillen, sanften, rührenden Erinnerungen, die lieben Bilder aus meinem langen, reichgesegneten Leben – und über allem waltet die herzergeifende, versöhnende und allesverzeihende göttliche Gerechtigkeit! Mein Leben geht zu Ende; das weiß ich, und das spüre ich. Aber mit jedem Tag, der mir noch beschieden ist, fühle ich stärker, wie sich mein irdisches Leben schon mit einem neuen, unendlichen, unbekannten, doch bereits nahem Leben berührt, von dessen Vorahnung meine Seele vor Entzücken bebt, mein Geist erstrahlt und mein Herz Freudentränen vergießt .. Meine Freunde und Lehrer, ich habe mehrmals gehört, und in letzter Zeit ist noch vernehmlicher darüber gesprochen worden, daß sich bei uns die Priester Gottes allerorten, namentlich auf dem Lande, über ihr geringes Einkommen und ihre unwürdige Lage beklagen und unverblümt erklären, sogar in Druckschriften – ich selbst habe solche gelesen – sie könnten dem Volk jetzt nicht mehr die Schrift auslegen, denn es fehle ihnen an Mitteln zu ihrem Lebensunterhalt. Und wenn jetzt die Lutheraner und die Ketzer anfingen, die Herde abspenstig zu machen, so müßten sie es geschehen lassen, weil sie zu wenig Einkommen haben. ›Herr Gott!‹ denke ich. ›Möge Gott ihnen mehr von diesem ach so kostbaren Einkommen geben – denn ihre Klage ist wirklich begründet!‹ Doch ich sage wahrheitsgemäß auch: Wenn jemand daran schuld ist, so sind wir es zur Hälfte selbst! Mag auch ein solcher Geistlicher außerordentlich wenig Zeit haben, mag er auch mit Recht sagen, daß die wirtschaftliche Arbeit und die Amtshandlungen ihn fast erdrücken – das füllt doch nicht seine ganze Zeit aus, auch er hat mindestens eine Stunde in der Woche, wo er an Gott denken kann. Und die Arbeit dauert auch nicht das ganze volle Jahr. Soll er bei sich zu Hause zunächst einmal in der Woche zur Abendzeit wenigstens die Kinderchen versammeln; wenn die Väter das hören, werden auch sie kommen. Und zu diesem Zweck braucht kein großes Wohnhaus errichtet zu werden: Er nehme sie einfach in sein Häuschen auf. Er braucht nicht zu befürchten, sie könnten ihm die Stube beschmutzen; er versammelt sie ja nur für eine einzige Stunde. Er schlage ihnen dieses Buch auf und beginne zu lesen, ohne kunstvolle Worte und ohne Eitelkeit und ohne Selbstüberhebung, sondern ergriffen und sanft, sich selbst darüber freuend, daß er ihnen vorliest und sie ihm zuhören und ihn verstehen, und was er vorliest, auch selber liebend. Nur selten halte er inne und erkläre einen Ausdruck, der dem einfachen Mann unverständlich ist. Er sei unbesorgt, sie werden schon alles verstehen, alles wird das rechtgläubige Herz verstehen! Er lese ihnen von Abraham und Sarah, von Isaak und Rebekka, und wie Jakob zu Laban ging und im Traum mit dem Herrn rang und sagte: »Furchtbar ist dieser Ort!« Und er wird auf den gottesfürchtigen Geist der einfachen Leute einen tiefen Eindruck machen. Er lese ihnen, besonders den Kindern, wie die Brüder ihren Bruder, den lieben Knaben Joseph, den großen Traumdeuter und Propheten, in die Sklaverei verkauften und dem Vater sagten, ein wildes Tier habe seinen Sohn zerrissen, wobei sie ihm dessen blutigen Rock zeigten. Er lese, wie später die Brüder nach Ägypten zogen, um Getreide zu holen, und wie Joseph, inzwischen ein großer Mann am Hofe des Königs, von ihnen nicht wiedererkannt wurde, wie er sie quälte und beschuldigte und den Bruder Benjamin zurückbehielt, und das alles aus Liebe: »Ich liebe euch, und aus Liebe quäle ich euch.« Denn er hatte sich sein Leben lang unaufhörlich daran erinnert, wie sie ihn irgendwo in der glühenden Wüste bei einem Brunnen an Kaufleute verkauft hatten und wie er geweint und seine Brüder händeringend gebeten hatte, ihn nicht in ein fremdes Land zu verkaufen. Und siehe da, als er sie nun nach so vielen Jahren wiedersah, gewann er sie von neuem grenzenlos lieb; aber er peinigte und quälte sie, alles aus Liebe. Zuletzt verließ er sie, da er die Qual seines Herzens nicht mehr ertragen konnte, warf sich auf sein Bett und weinte. Dann trocknete er seine Tränen, ging mit strahlendem Antlitz wieder zu ihnen und verkündete ihnen: »Brüder, ich bin Joseph, euer Bruder!« Er lese ihnen weiter, wie sich der alte Jakob freute, als er erfuhr, daß sein lieber Knabe noch am Leben war, wie er sogar seine Heimat verließ und nach Ägypten zog und im fremden Land starb, nachdem er, in seinem Vermächtnis für alte Ewigkeit das
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