Die Brüder Karamasow
große Wort verkündet hatte, das sein Leben lang geheimnisvoll in seinem frommen, furchtsamen Herzen geruht hatte: daß nämlich aus seinem Stamm, aus Juda, die große Hoffnung der Welt, ihr Versöhner und Heiland, hervorgehen werde! Meine Väter und Lehrer, verzeiht mir und zürnet mir nicht, daß ich wie ein kleiner Knabe von Dingen rede, die ihr schon längst wißt und über die ihr mich hundertmal kunstvoller und schöner belehren könnt. Nur aus Begeisterung sage ich das alles. Und verzeiht mir auch diese Tränen, weil ich dieses Buch liebe! Und sollte auch er, der Priester Gottes, in Tränen ausbrechen, so wird er sehen, daß als Antwort darauf die Herzen seiner Zuhörer erbeben werden. Es ist ja nur ein winziges Samenkorn erforderlich: Wenn er dieses in die Seele des einfachen Mannes wirft, wird es nicht ersterben, sondern in ihm sein ganzes Leben lang leben, inmitten des Dunkels und der Wirrnis der Sünden verborgen als ein heller Punkt, als eine große Erinnerung. Und es ist gar nicht nötig, viel zu erläutern und zu lehren, er wird alles ganz einfach begreifen. Denkt etwa jemand, der einfache Mann könnte es nicht begreifen? Er versuche es, er lese ihm weiter die ergreifende Geschichte von der schönen Esther und der hochmütigen Vasthi oder die wunderbare Erzählung von dem Propheten Jona im Bauch des Walfischs. Er vergesse auch nicht die Gleichnisse des Herrn nach dem Evangelium des Lukas, die habe ich auch nie vergessen, und aus der Apostelgeschichte die Bekehrung des Saulus, der Text ist unbedingt nötig, und endlich aus den Lebensbeschreibungen der Heiligen wenigstens das Leben von Alexej dem Gottesmann und der großen, freudigen Märtyrerin, der ägyptischen Mutter Maria, der Gottschauerin und Christusträgerin – und er wird ihm mit diesen einfachen Erzählungen das Herz rühren. Und das nur eine Stunde in der Woche, das geht trotz des geringen Einkommens! Und er wird selbst sehen, daß unser einfaches Volk gut und dankbar ist. Es wird ihm hundertfach Dank abstatten; in Erinnerung an die freundlichen Mühen des Geistlichen und an seine rührenden Worte wird es ihm freiwillig auf dem Feld und im Haus helfen und ihm mehr Achtung entgegenbringen als vorher – und somit wird denn auch sein Einkommen steigen. Die Sache ist so einfach, daß man sich manchmal scheut, sie überhaupt auszusprechen – aus Furcht, von den Leuten ausgelacht zu werden. Doch wie wahr ist sie dabei! Wer nicht an Gott glaubt, wird auch nicht an das Volk Gottes glauben. Wer aber an das Volk Gottes glaubt, wird auch Gottes Heiligtum schauen, selbst wenn er bis dahin überhaupt nicht daran geglaubt hat. Nur das Volk und seine künftige geistige Kraft wird unsere Atheisten bekehren, die sich von der heimischen Erde losgerissen haben. Und was ist das Wort Christi ohne Vorbild? Ohne Gottes Wort geht das Volk zugrunde, denn seine Seele dürstet nach dem Wort und nach jeder schönen geistigen Gabe. In meiner Jugend, es ist schon lange her, fast vierzig Jahre, wanderten Vater Anfim und ich durch ganz Rußland, um Gaben für unser Kloster zu sammeln. Da übernachteten wir einmal, zusammen mit Fischern, am Ufer eines großen, schiffbaren Flusses, und zu uns setzte sich ein gutgewachsener junger Mann, ein Bauer, dem Aussehen nach etwa achtzehn Jahre alt. Er war an diesen Ort geeilt, um am nächsten Tag eine Kaufmannsbarke an Land zu ziehen. Ich sah, wie er mit klaren Augen vor sich hin blickte. Es war eine helle, stille, warme Julinacht, vor uns lag der breite Fluß, Nebel stieg von ihm auf und erfrischte uns, leise plätscherte ab und zu ein Fisch, die Vögel waren verstummt, alles war still und herrlich: alles betete zu Gott. Nur wir beide schliefen nicht, ich und dieser junge Bauer. Wir sprachen über die Schönheit dieser Gotteswelt und über ihr großes, Geheimnis: wie jedes Gräschen, jedes Käferchen, die Ameise, die goldene Biene, alle in erstaunlicher Weise ihren Weg kennen, obgleich sie keinen Verstand besitzen, wie sie von Gottes Geheimnis zeugen und es unaufhörlich selbst erfüllen. Und ich sah, das Herz des lieben jungen Mannes war in Liebe entbrannt. Er teilte mir mit, er liebe den Wald und die Waldvögel; er sei Vogelfänger und kenne jeden Pfiff eines Vogels und könne jeden Vogel anlocken. »Etwas Besseres als das Leben im Wald kenne ich nicht«, sagte er. »Es ist jedoch alles in der Welt schön.« – »Das ist richtig«, antwortete ich ihm. »Alles ist schön und prächtig, weil alles die Wahrheit ist. Schau dir das
Weitere Kostenlose Bücher