Die Brüder Karamasow
ebensowenig er dich. Mit welcher Rührung wird seine Seele, die in Angst vor dem Herrn steht, in diesem Augenblick empfinden, daß auch für ihn jemand betet, daß auf der Erde ein menschliches Wesen zurückgeblieben ist, das auch ihn liebt! Und auch Gott wird gnädiger auf euch beide schauen: Wenn schon du den Verstorbenen so bemitleidet hast, um wieviel mehr wird Er mit ihm Mitleid haben, der unendlich viel barmherziger und liebevoller ist als du. Und Er wird ihm deinetwillen verzeihen.
Ihr Brüder, schreckt nicht zurück vor der Sünde der Menschen! Liebet den Menschen auch in seiner Sünde, denn das ist schon ein Abbild der göttlichen Liebe und der Gipfel der Liebe auf Erden. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das Weltall wie auch jedes Sandkörnchen! Liebet jedes Blättchen, jeden Lichtstrahl Gottes! Liebet die Tiere, liebet die Pflanzen, liebet jedes Ding! Wenn du jedes Ding liebst, wirst du das Geheimnis Gottes in den Dingen erfassen. Und wenn du es einmal erfaßt hast, wirst du es immer mehr und tiefer erkennen, unaufhörlich, Tag für Tag. Und du wirst schließlich die ganze Welt mit allumfassender Liebe liebgewinnen. Liebet die Tiere! Ihnen hat Gott einen Anfang des Denkens gegeben und eine harmlose Lebensfreude. Trübt ihnen diese Freude nicht, quält sie nicht, nehmt ihnen nicht ihre Freude, handelt nicht der Absicht Gottes zuwider! Mensch, überhebe dich nicht über die Tiere: Sie sind frei von Sünde, du jedoch in all deiner Herrlichkeit besudelst die Erde durch dein Erscheinen und hinterläßt eine schmutzige Spur – fast ein jeder von uns tut das! Liebet ganz besonders die Kinder, denn auch sie sind frei von Sünde wie die Engel! Sie leben zu unserer Rührung, zur Läuterung unserer Herzen, als Hinweis für uns wie wir werden sollten. Wehe dem, der einem Kind etwas zuleide tut! Mich hat Vater Anfim Kinder lieben gelehrt. Dieser liebe, schweigsame Mensch kaufte auf unseren Pilgerfahrten manchmal für die Kopeken, die man uns gab, Pfefferkuchen und Kandiszucker für die Kinder. Er konnte an einem kleinen Kind nicht ohne seelische Ergriffenheit vorübergehen, so ein Mensch war er.
Bei manchem Vorhaben wirst du, besonders angesichts der Sündhaftigkeit der Menschen, im Zweifel sein und dich fragen: Soll ich zu Gewalt greifen oder zu demütiger Liebe? Entscheide dich stets für die demütige Liebe! Wenn du das ein für allemal tust, wirst du dir die ganze Welt unterwerfen können. Die demütige Liebe ist eine gewaltige Kraft, die stärkste, die es gibt, eine Kraft, der nichts gleichkommt. Täglich und stündlich, ja in jedem Augenblick achte auf dich, ob deine Miene auch sanft und freundlich ist. Da bist du an einem kleinen Kind vorbeigegangen mit ärgerlichem Gesicht, mit einem häßlichen Wort, mit zornerfülltem Herzen; du hast das Kind vielleicht gar nicht bemerkt – aber es hat dich gesehen, und dein böses, unfrommes Bild ist vielleicht in seinem wehrlosen Herzen haftengeblieben. Du hast das nicht gewußt, doch möglicherweise hast du in die Seele des Kindes ein schlechtes Samenkorn geworfen, und das wächst vielleicht – und alles nur, weil du dich dem Kind gegenüber nicht in acht genommen, weil du keine umsichtige, tatkräftige Liebe in deinem Herzen gehegt hast. Meine Brüder, die Liebe ist eine Lehrerin, aber man muß es verstehen, sie zu erwerben! Sie läßt sich nämlich nur schwer erwerben und muß teuer erkauft werden durch lange Arbeit: Man muß nicht nur für einen zufälligen Augenblick lieben, sondern für das ganze Leben. Zufällig lieben, das kann jeder, das tut sogar ein Bösewicht. Ein Jüngling, mein Bruder, hat einmal die Vögel um Verzeihung gebeten. Das scheint sinnlos und ist doch in der Ordnung, denn alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich; an einer Stelle rührst du etwas an, und am anderen Ende der Welt findet es seinen Widerhall. Und selbst wenn es sinnlos sein sollte, die Vögel um Verzeihung zu bitten – die Vögel und die kleinen Kinder und alle lebenden Wesen würden sich doch in deiner Nähe wohler fühlen, sowie du freundlicher und liebenswürdiger bist als jetzt, sei es auch nur ein ganz klein wenig. Alles ist wie ein Ozean, sage ich euch. Du könntest also, von allumfassender Liebe getrieben, in einer Art von Begeisterung auch zu den Vögeln beten und sie bitten, dir deine Sünden zu verzeihen. Halte diese Begeisterung hoch, so sinnlos sie auch den Menschen scheinen mag.
Meine Freunde, bittet Gott um Frohsinn! Seid fröhlich wie die Kinder,
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