Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
Rand der Herde: Er spähte nach einem vereinzelten Kalb oder einem Tier aus, das zu krank und zu schwer verletzt war, um einen Kampf gewinnen zu können.
Menschen hingegen waren keine zu sehen. Er entdeckte nur drei weitere Torfmänner mit weit ausgestreckten Geweiharmen auf dem gegenüberliegenden Hügel.
Renn flüsterte leise: »Wir sind außer Schussweite. Wir müssen weiter hinunter, in das Gebüsch.«
Sie hatte recht. Wozu nach anderen Jägern Ausschau halten. Alles, was zählte, war das Fleisch.
Sie mussten so nahe wie möglich an die Herde heran. Bei der Rentierjagd hängt alles davon ab, wie rasch und lautlos man die Beute trifft. Die Tiere dürfen nicht aufgeschreckt werden. Trifft der Schuss daneben, ist die Herde im Nu verschwunden und man geht leer aus.
Renn murmelte ein Gebet für den Clanhüter; Torak bat den Wald, ihm Glück bei der Jagd zu bringen. Dann kletterten sie vorsichtig den Hang hinunter ins Weidengebüsch.
Torak erhaschte einen Blick auf Wolf, der sich durch die Herde schlängelte, und wünschte ihm stumm eine gute Jagd.
Wolf lief durch den satten, betörenden Duft und sein Fell sträubte sich vor Hunger.
Er witterte die blutigen Fetzen, die an den Kopfzweigen der Rentiere baumelten, den köstlichen Geruch der Kälber. Zu seiner Erleichterung witterte er keinen anderen Wolf – kein anderes Rudel, das einen einsamen Wolf angriff, der sich in fremdes Territorium gewagt hatte.
Er zeigte sich der Beute, damit sie davonlief.
Ein mächtiger Bulle kam mit gesenktem Kopf auf Wolf zugestampft. Lass meine Weibchen in Ruhe! Wolf wich den spitzen Kopfzweigen aus und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit.
Mitten im Getöse vernahm er plötzlich ein zartes, ängstliches Blöken und lief darauf zu.
Das Kalb stand zitternd auf einer kleinen, mit Kies bedeckten Insel mitten im Flinken Nass. Wolf roch seine Furcht. Das Junge war ohne Begleitschutz, seine tote Mutter lag mit bereits blank genagtem Gerippe neben ihm.
Wolf senkte den Kopf und ließ sich ins Nass gleiten. Obwohl er mitten in der Herde schwamm, beachteten ihn die Tiere nicht. Sie spürten, dass er es nicht auf sie abgesehen hatte.
Das Kalb jedoch witterte ihn und blökte noch schriller. Wolf sah, wie es sich hinter das Gerippe der Mutter zurückzog und den Kopf duckte, damit er es nicht sehen konnte. In seiner Aufregung vergaß es ganz, das helle, flauschige Hinterteil einzuziehen.
Wolf spürte Kiesel unter den Pfoten. Er hatte die Insel erreicht.
Gerade als er sich aus dem Wasser stemmte, tauchte eine große Rentierkuh an der anderen Seite der Insel auf und stürmte auf ihn los. Hastig versuchte Wolf, ihr auszuweichen. Sie senkte den Kopf und ging mit ihren Kopfzweigen sofort zum Angriff über. Wolf machte einen Satz zur Seite. Die Kopfzweige verpassten ihn um Haaresbreite, ein Kieselschauer prasselte auf ihn nieder. Er hatte einen Fehler gemacht. Das blank genagte Gerippe war nicht die Mutter gewesen. Diese Kuh war die Mutter. Blitzschnell sauste Wolf an ihr vorbei und brachte sich mit einem weiten Sprung ins Nass in Sicherheit.
Sicher am anderen Ufer angekommen, warf er einen Blick zurück. Das Kalb hatte sich unter den Bauch der Mutter geduckt und saugte, doch die Rentierkuh sah drohend zu ihm hinüber: Bleib bloß weg!
In einiger Entfernung vernahm er ein schmerzgepeinigtes Blöken. Dort. Ein junger Bock mühte sich vergeblich, ans Ufer zu kommen. Seine Kopfzweige waren scharf wie Fänge: Ein Hieb konnte den Bauch eines unvorsichtigen Wolf zerschlitzen.
Aber mit dem Lauf des Bocks war etwas nicht in Ordnung.
Kapitel 17
Torak hatte Wolf kurz mitten in der Herde erspäht, ihn dann aber wieder aus den Augen verloren.
Renn flüsterte ihm ins Ohr: »Das Weidengebüsch ist zu dicht, von hier aus kann ich nicht richtig zielen.«
Er nickte. »Wir schleichen besser zu den Felsen am Fluss …«
Schweigend stahlen sie sich zwischen den mannshohen Bäumen den Abhang hinunter. Zwischen den Ästen erhaschte Torak hier und da einen Blick auf Rentiere, die quer durch die Senke zum Wasser trabten. Sie liefen nach Rentierart, mit erhobenen Schnauzen, abgespreizten Hinterläufen und hin und her wackelnden weißen Hinterteilen.
Renn hatte ihre Schneemaske abgenommen. Ihre Augen leuchteten. Er wusste genau, woran sie dachte: an fettes Knochenmark und gebratene Lende, so zart und saftig, dass einem beim ersten Bissen das Blut zwischen den Zähnen hervorquillt und langsam über das Kinn rinnt …
Lass das, Torak. Noch hast
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