Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
Männer hinweg und ahmte Hundegebell nach. Sein überraschendes Auftauchen brachte den Jäger für einen kurzen Augenblick aus der Fassung. Er schleuderte den Speer zwar, doch der tödliche Treffer zwischen die Rippen der Beute misslang: Der Speer blieb in ihrem Rücken stecken. Das weiße Rentier kletterte ans Ufer und stob, den Speer hinter sich herschleifend, davon.
Im Nu witterte die gesamte Herde den Schmerz der getroffenen Kuh. Panik brach aus. Torak sah das Weiße in den Augen der Tiere, ihre weit geblähten Nüstern. Kopflos durcheinander trampelnd, ergriff die Herde die Flucht. Rentiere stiegen wiehernd auf, kletterten übereinander hinweg und der gemächlich dahin fließende Fluss verwandelte sich schlagartig in einen brausenden Strudel. Die Wellen warfen die Kanus wie Nussschalen hin und her und die Jäger konnten sich nur mit Müh und Not daran festklammern. Mit einem Mal knackten die Zweige hinter ihnen. Torak wirbelte herum. Ein Rentier brach durchs Gebüsch, preschte direkt auf sie zu.
»Auf die Felsen!«, schrie Renn.
Sie stürzten aus ihrem Versteck hervor. Torak hob Renn hastig auf den nächsten Felsbrocken und schwang sich dann hinterher. Mit donnernden Hufen stürmte die Herde vorbei, ein mächtiger Strom aus Geweihen, Hufen und muskulösen Leibern, der jedes Hindernis unter sich zermalmte. Renn war noch nicht hoch genug auf den Felsen geklettert, noch nicht außer Reichweite; ein Bulle bäumte sich auf und schnappte nach ihrem Haar. Sie schrie vor Schmerz auf und versuchte, sich mit einer Hand zu befreien. Torak riss sein Messer aus dem Gürtel und schnitt die Strähne durch. Der Bulle warf, rasend vor Angst, den Kopf zurück und schlug mit den Hufen aus. Der Stoß traf Torak an der Schulter. Er stürzte und rollte seitlich weg. Im nächsten Augenblick setzte der Huf dicht neben seinem Gesicht auf den Boden. Renn beugte sich zu ihm hinunter und packte seinen Arm, während der Bulle das Ufer hinabstolperte.
»Alles in Ordnung?«, brüllte Renn über das Stampfen der Hufe hinweg.
»Ja! Bei dir?«, schrie er.
Sie nickte grimmig, obwohl die Wunde an ihrem Hinterkopf heftig blutete. Der Bulle hatte ihr die Haarsträhne mitsamt den Wurzeln herausgerissen.
Plötzlich war alles vorbei wie ein Spuk. Am gegenüberliegenden Ufer preschte das letzte Rentier davon. Das Trappeln der Hufe verklang. Die Herde war verschwunden.
Mit einer Hand fest gegen den Hinterkopf gepresst, rutschte Renn langsam vom Felsen herunter. Torak landete mit einem Sprung neben ihr.
Weiter unten, am Fluss, wateten die Jäger ans Ufer und zogen die Kanus ins flache Wasser. Schon stürzten die ersten ins Gebüsch und suchten mit gezücktem Speer nach den Übeltätern, die ihnen die Jagd verdorben hatten. Die bemalten Gesichter der Männer sahen finster aus, ihre Stimmen summten wie angriffslustige Wespen. Torak konnte sie verstehen. Ein erlegtes Rentier und ein verwundetes, das man über mehrere Tage würde verfolgen müssen: wahrlich eine kümmerliche Beute für einen großen Clan.
Renn zog ihn hastig hinter einen Findling. »Wir müssen unbedingt verschwinden, bevor sie uns entdecken«, zischte sie.
»Aber ohne ihre Hilfe finden wir nie den richtigen Weg.«
»Stimmt. Aber momentan helfen sie uns bestimmt nicht weiter. Sie kochen vor Wut.«
Der Jäger, der Rips Streich zum Opfer gefallen war und sein Ziel verfehlt hatte, war noch aufgebrachter als die anderen. »Habt ihr das gesehen?«, schrie er. »Ein Dämon in Rabengestalt! Erst verpatzt er mir den Schuss, dann löst er sich in Luft auf!«
Torak war drauf und dran, sich mit einem Ruf bemerkbar zu machen, aber Renn legte ihm rasch die Hand auf den Mund. »Bist du verrückt?«, flüsterte sie.
Torak besah sich die Jäger genauer. Dann zog er Renns Hand von seinem Mund und trat hinter dem Schutz der Felsen hervor ins Freie.
Kapitel 18
Renn sah, wie ein kräftiger Mann sich umdrehte und die Augen zusammenkniff.
»Krukoslik!«, schrie Torak, riss sich die Schneemaske herunter und rannte zum Ufer.
Das bemalte Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Torak!« Mit langen Schritten kam der Anführer des Berghasenclans auf ihn zu. Zum Zeichen der Freundschaft legte er beide Fäuste über das Herz. »Du bist aber gewachsen! Ist das da drüben Renn? Komm her, so komm doch her!«
Renn, die etwas verlegen war, weil sie ihren alten Freund nicht gleich erkannt hatte, folgte der Aufforderung, und auch die anderen Männer liefen neugierig herbei. Die meisten gehörten zum
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