Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
Pflanze gegeben haben. Er hatte ihr kein Wort davon erzählt.
Dabei nahm sich seine Geheimniskrämerei noch recht bescheiden neben dem aus, was sie ihm verschwieg.
»Renn«, sagte er langsam. »Erinnerst du dich an deine Träume?«
»Wie bitte?«, fragte sie überrascht.
»Deine Träume. Kannst du dich an sie erinnern, wenn du erwachst?«
»An die meisten schon. Warum?«
»Seit wir den Wald verlassen haben, kann ich mich beim Aufwachen an nichts mehr erinnern. Alles ist wie ein großes schwarzes Loch. Was hat das zu bedeuten?«
Sie schluckte. Sag es ihm, sag es ihm endlich.
Just in diesem Augenblick dröhnte ein seltsames Ächzen durch die Nacht.
Krukoslik sah, wie seine beiden Gäste zusammenzuckten. »Das ist der See. Er friert zu und bittet den Berg um Schnee, der ihn warm hält. Auch wir brauchen Wärme. Dieses verfluchte Eis hungert allmählich die Gehörnten aus.«
Toraks Augen leuchteten auf. »Der Berg«, sagte er. »Es ist an der Zeit, uns zu erzählen, was du weißt.«
Kapitel 19
Krukoslik legte ein Stück Torf in Feuer. Ein bitterer, erdiger Geruch breitete sich aus.
Renns Blick wanderte vom Anführer der Berghasen zu Torak. Im rötlichen Feuerschein sahen die Gesichter der beiden scharf konturiert und eigenartig fremd aus.
»Uns, die wir am Rand der Welt leben«, sagte Krukoslik, »sind zwei Berge heilig. Der Berg im Norden, Heimstatt des Weltgeistes, und der Berg im Süden: der Berg der Geister. Ganz gleich, wie weit entfernt wir vom Berg der Geister jagen mögen, er ist uns immer Mutter und Vater zugleich. Er macht die Flüsse und den Schnee. Sein Gipfel spannt die Himmelsdecke über uns. Er schickt uns die Sonne, die große Lebensspenderin. Er nimmt den Geist der Gehörnten zu sich und verleiht ihnen neue Körper. Und er schützt unsere Geister, die Seelen der Toten, die sich verirrt haben.«
Renn sagte leise: »Die Nacht der Seelen. Was geschieht in dieser Nacht?«
»Die Nacht der Seelen?« Torak drehte sich zu ihr um. »Glaubst du, sie wartet darauf?«
Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
»In der Nacht der Seelen«, fuhr Krukoslik fort, »gibt der Berg die Toten frei. Wir hören sie im Heulen des Windes: die donnernden Hufe der Seelen der Gehörnten und die einsamen Rufe der hungrigen Geister.« Seine Züge glätteten sich. »Wir trösten sie. Wir legen Flechten für die Seelen der Gehörnten bereit und bauen Unterschlupfe für unsere Geister, die wir mit warmer Kleidung, ihren Lieblingsspeisen und Spielzeug für die Kinder füllen. Und wir wecken ein Feuer, um die Dunkelheit zu vertreiben.«
Er lächelte. »Ja, es ist eine schöne Zeit! Einen Tag und eine Nacht lang leisten wir ihnen Gesellschaft, singen Lieder und erzählen Geschichten. Wenn sie vorbei ist, so wie alles vorbei geht, schicken wir sie wieder weg. Viele von ihnen finden danach ihren Frieden.« Er deutete auf das Rauchloch in der Zeltdecke. »Sie gesellen sich zu den Ahnen, um gemeinsam mit ihnen die gewaltigen Herden zu jagen, die über den Himmel ziehen. Andere hingegen kehren in den Berg zurück und versuchen es im folgenden Winter mit unserer Hilfe erneut. Wir lassen die Geister niemals im Stich.«
Torak sprach aus, was Renn dachte: »Aber in diesem Winter …«
Krukosliks Miene verdüsterte sich. Er streckte die Hand aus und berührte einen der gemalten Hüter. »Es begann im Frühling vor diesem. Unsere Kinder verschwanden spurlos. Unsere Hundeschlitten waren nicht mehr aufzufinden, bis wir weit entfernt die zersplitterten Reste entdeckten. Dann kamen Mottenplage und Schattenkrankheit. Ja, Renn, auch wir sind nicht davon verschont geblieben. Nun drohen die Gehörnten zu verhungern, weil alles zugefroren ist. Erst seit einem Mond haben unsere Schamanen eine Vermutung, wo die Eine Böse ihr Nest gebaut hat.«
»Aber was will sie?«, fragte Renn. »Was geschieht in der Nacht der Seelen?«
»Das weiß niemand«, erwiderte Krukoslik. »Am Fuße der Berge hat man entsetzliche Schreie vernommen. Kleine Dämonen mit Eulenaugen huschten zwischen den Steinen umher. Unsere Schamanen haben Visionen. Etwas Graues, Entsetzliches frisst die Eingeweide des Berges.« Er schluckte. »Wir fürchten, dass sie vom Berg Besitz ergriffen hat. So … so ist sie schon immer gewesen.«
»Hast du sie denn gekannt ?«, fragte Torak.
»Selbst die Eine Böse war einmal jung. Zu meiner Jugend gab es noch einige Angehörige des Adlereulenclans, gute, freundliche Menschen, denen wir bei unseren Sippentreffen
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