Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
begegneten. Nur Eostra unterschied sich von ihnen. Sie verlangte es schon immer nach den Geheimnissen der Toten.« Er sah sich vorsichtig um. Die Schamanen waren in die nächste Hütte weitergezogen, alle anderen schliefen fest. »Es heißt«, fuhr er fort, »sie habe das verbotene Ritual vollzogen, als sie Schamanin wurde.«
Renn keuchte auf. »Das hat sie wirklich getan?«
»Was bedeutet das?«, drängte Torak. »Was hat sie getan?«
Krukoslik beugte sich noch weiter vor. »Ein Junge vom Clan der Adlereulen, ein Junge von zehn Sommern, war von einer Gerölllawine erschlagen worden. Man sagt, sie sei in der Nacht der Seelen, in der sich der Mond verdunkelt, zu dem Steingrab des Toten gegangen. Um ihn zum Leben zu erwecken…«
Renn berührte die Federn ihres Totemtiers und schloss die Augen. Sie sah einen windumtosten Abhang, eine hochgewachsene Frau mit langem schwarzem Haar. Sie stand vor einem Steingrab …
Das Hügelgrab bewegt sich, Steine rollen herab. Eostra entblößt ihren Arm, streicht mit der Klinge über die Haut. Dann benetzt sie das Fleisch des Toten mit ihrem Blut. Der Junge setzt sich auf. Er dreht den Kopf. Sein umflorter Blick findet den ihren, aus seinem Mund sprudelt der Schaum der Verwesung. Wie eine Liebende beugt sich Eostra zu ihm hinab. Ihr langes Haar streicht zärtlich über seine Stirn, ihr Gesicht neigt sich ihm entgegen, nah und immer näher – bis sie den Leichenschaum von seinen verfaulenden Lippen leckt …
Renn zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Torak hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. »Renn«, flüsterte er.
Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Krukoslik sah ins Feuer. »Sie hat erreicht, was sie wollte«, sagte er. »Von nun an konnte sie mit den Toten reden. Bald darauf wurde die restliche Adlereulensippe von einer Krankheit dahingerafft. Eostra verschwand spurlos.«
»Und schloss sich den Seelenessern an«, ergänzte Torak.
»Sie wurde zu einer Seelenesserin«, sagte Krukoslik mit besonderem Nachdruck. »Das musst du unbedingt wissen, Torak. Manche behaupten, die Seelenesser hätten diesen Namen nur angenommen, um anderen Furcht einzuflößen. Nicht so Eostra. Bei ihr ist es wortwörtlich zu verstehen.«
»Was willst du damit sagen?«, erkundigte sich Renn.
»Der Schwanclan hält sich öfter auf den Pässen im Gebirge auf. Mitunter sind sie auf ihren Wanderungen bis in die Schlucht des Verborgenen Volkes vorgestoßen. Sie haben Eostra gesehen. Sie haben gesagt, sie würde mit einem dreigezackten Speer die Seelen der Toten aufspießen. Sobald man ihren Ruf vernimmt, ist man verloren.«
Verloren … Renns Finger schlossen sich fest um die Federn ihres Totemtiers.
»Eostras Schrei«, fuhr Krukoslik fort, »reißt einem die Seelen aus dem Mark. Sie spießt sie mit ihrem Speer auf. Und v erschlingt sie. Eostra ist tatsächlich eine Seelenesserin.«
Torak legte die Hände auf die Knie. »Ich muss sie trotzdem finden«, sagte er entschlossen.
Renn warf ihm einen raschen Blick zu. » Ich? Warum nicht wir? «
Keine Antwort.
Krukoslik schüttelte den Kopf. »Man sagt, das sei dein Schicksal, Torak. Aber nach allem, was ich dir erzählt habe …«
»Krukoslik, vor drei Wintern, damals, als der Bär uns bedrohte, hast du mir geholfen, den Berg zu finden. Hilfst du mir auch jetzt?«
»Keine kleine Bitte«, erwiderte der Anführer der Berghasen. »Früher suchten unsere Schamanen den Berg hin und wieder auf, aber die Zeiten haben sich geändert. Nur ein geheimer Pfad führt dorthin.«
»Du musst ihn mir zeigen.«
Sie sahen einander an, während der Wind heulte und der See den Berg um Hilfe anrief.
Krukoslik setzte sich kerzengerade hin. Mit einem Mal war er wieder der Anführer seines Clans, dem alle gehorchen mussten. »Es ist an der Zeit, dass wir uns schlafen legen. Morgen früh teile ich dir meine Antwort mit.«
Renn wachte von der unnatürlichen Stille auf. Ein Frösteln überlief sie.
Das Feuer brannte lautlos. Die Zeltwände hoben und senkten sich, aber sie vernahm kein Flattern, auch das Stöhnen des Windes war verstummt. Torak drehte den Kopf zur Seite und murmelte im Schlaf. Seine Lippen bewegten sich lautlos.
Langsam setzte sie sich auf.
Am anderen Ende des Zeltes stand jemand vor dem dunklen Zelteingang.
Ihr Herz fing an zu hämmern.
Die Gestalt war groß und kehrte Renn den Rücken zu. Lange aschgraue Locken fielen über das Gewand, von ihrem Kopf standen spitze Eulenohren ab.
Renn wollte Torak wecken,
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