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Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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stand am unteren Ende der Felsspalte und beobachtete Torak beim Klettern. Sein Blick war starr.
    Während seine Finger nach dem nächsten Haltegriff suchten, stellte Torak sich vor, wie Wolf, dicht gefolgt von der Meute, über den Schnee stürmte. Wolf stolperte. Ein Hund grub seine Zähne in seine Flanke. Sie stürzten sich auf ihn, rissen ihn in Stücke …
    Der Axtgriff schlug Torak gegen die Hüfte und warf ihn ein Stück zurück.
    Sie haben Wolf nicht erwischt, sagte er sich. Eostra will nur, dass du das glaubst.
    Die Felsspalte war so hoch wie vier große Männer, aber schmal genug zum Hinaufklettern; er konnte sich links und rechts mit den Füßen abstützen und der rissige Granit bot an vielen Stellen Halt für Hände und Füße. An einem Sommertag wäre Torak hinaufgeklettert wie ein Eichhörnchen. Jetzt allerdings war der Fels nass und von schwarzem Eis durchzogen. Seine Finger waren bereits klamm vor Kälte. Die Fäustlinge waren ihm aus dem Ärmel gerutscht und baumelten an den Schnüren, aber er wagte nicht, sie überzustreifen.
    Als er eine kurze Pause machte, um Atem zu schöpfen, legte er den Kopf in den Nacken. Der Berg war im Nebel verschwunden, aber er konnte den oberen Rand der Felsspalte erkennen. Er hatte es fast geschafft.
    »Nicht zu schnell, Torak.« Er glaubte die ruhige Stimme seines Blutsbruders Bale zu hören. Vor zwei Sommern hatte der Junge vom Robbenclan ihm beigebracht, auf Berge zu klettern. Bale war geduldig gewesen und hatte Torak niemals überfordert. »Versuch, die Arme nicht höher zu nehmen als bis zu den Schultern; dadurch bleibt dein Gewicht auf den Füßen… Und Fersen nach unten, Torak. Wenn du auf deinen Zehen stehst, kriegst du nur zittrige Beine.«
    Toraks Fersen waren unten, aber seine Beine zitterten trotzdem.
    Unter ihm knurrte das gefleckte Untier.
    Torak warf einen Blick hinab.
    Kalt, so kalt, dieser steinerne Blick, der darauf wartete, dass ihm der Fleischsack ins Maul fiel. Seine Gier nagte an Torak.
    Er kniff die Augen zusammen. Schau nicht hin, sagte er sich. Denk nicht daran. Denk an etwas anderes. Denk an Wolf und Renn und Fin-Kedinn.
    Die Dunkelheit in seinem Kopf verwehte wie Rauch, den ein frischer Wind vertreibt.
    Torak machte die Augen wieder auf und zwang seine tauben Finger dazu, den nächsten Halt zu ertasten.
    Er fand sich wieder zurecht, bewegte eine Hand, dann einen Fuß, dann die andere Hand, den anderen Fuß. Geschmeidig und fließend wie Tanzschritte. Er war fast oben.
    Die Axt an seinem Gürtel verfing sich an einem kleinen Vorsprung und riss ihn zurück.
    Er klammerte sich mit beiden Händen fest, suchte mit angewinkeltem rechtem Bein nach einem Riss im Gestein. Doch der nächste Spalt war zu hoch, sein Fuß kam nicht hin, weil die festgeklemmte Axt ihm zu wenig Spielraum ließ.
    Also senkte er das rechte Bein wieder und suchte nach dem Absatz, den er gerade verlassen hatte. Sein Stiefel streifte über den glatten Fels, fand nichts. Nun fing sein linkes Bein, auf dem sein gesamtes Gewicht lastete, an zu zittern. Das konnte er nicht lange durchhalten, er musste mit einer Hand nach unten greifen und seine Axt losmachen. Doch dann hatte er nur eine Hand und einen Fuß am Felsen – nicht genug, um sich zu festzuhalten. Wieder schien er Bales Stimme zu hören. »Wenn du dir sonst nichts merkst, Torak, merk dir eins: Halte immer drei Glieder am Felsen. Beweg einen Arm oder ein Bein, aber nie beide auf einmal.«
    Sein linkes Bein zitterte heftig. Es half alles nichts: Er musste die Axt frei bekommen.
    Die Knöchel an beiden Händen traten weiß hervor, als er all seine Kraft zusammennahm, um sich loszureißen. Die Axt knirschte unheilvoll. Sein Gürtel spannte sich eng um die Hüfte, während sich der Griff der Axt nach unten bog. Die Arme zitterten vor Anstrengung. Mit einem Ruck, der ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, sprang die Axt heraus. Er richtete sich auf und sein freier Fuß fand endlich den nächsten Spalt.
    Zitternd vor Erleichterung, stemmte er die Beine links und rechts an die Felsspalte. Als das Zittern nachließ, unternahm er eine letzte Anstrengung und zog sich über den Rand.
    Wie ein gestrandeter Lachs lag er keuchend auf dem Bauch, eine Wange gegen den eiskalten Felsen gedrückt. Vor ihm erstreckte sich ein etwa fünfzig Schritt breites Plateau. Es lag im Schatten hoher Gipfel, die sich in den Nebel bohrten, und war mit geborstenen Felsbrocken übersät, die der Berg herabgeschleudert hatte.
    Torak erhob sich

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