Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
hatte, auch Ocker im Haar getragen hatte.
Den letzten Rest rieb er zwischen Wolfs Ohren. Bald würde sein Rudelgefährte allein auf dem Berg sein. Vielleicht bot ihm die Farbe Schutz.
Der Gedanke, Wolf zu verlassen, war unerträglich, aber ebenso schlimm war der Gedanke, ihn zu überreden, mit in die Flüsterhöhle zu gehen und dort zuzusehen, wie er starb.
Mit einem gereizten Knurren machte Wolf sich frei und schoss aus der Höhle. Ark und Dark folgten ihm. Torak kroch ihnen in die klirrende Kälte hinterher.
Er befand sich auf einem steilen, schneebedeckten Abhang. Der Nebel hatte sich verzogen. Der Himmel sah unheilvollen gelb aus. Bald würde der Berg seine Geister entlassen.
Während seine Augen sich an das Licht gewöhnten, wurde Torak klar, dass sie sich auf der Ostseite des Berges befanden. Die schmale Felsspalte, durch die er hinaufgeklettert war, musste irgendwo im Westen sein. Über ihm erhob sich der Berg der Geister, seine Spitze leuchtete in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Die Stunde der Dämonen war nahe.
Ark flog mit blitzenden weißen Flügeln über ihn hinweg. Wolf rannte umher, schnüffelte aufgeregt und hielt hin und wieder inne, um etwas zu beobachten, das sich den Abhang hinabbewegte; etwas, das Torak nicht sehen konnte.
Dark verschloss seine Höhle geschickt mit ein paar Steinen, die den Eingang unsichtbar machten und vor fremden Blicken schützten. »Die Höhle liegt dort«, sagte er dann und zeigte in eine Richtung. »Aber dieser Weg ist zu steil, deshalb müssen wir erst nach Osten und dann im Bogen wieder zurückgehen.«
Der fest zusammengebackene Schnee erwies sich als tückisch. Dark zeigte Torak, wie er die Zehen in den Schnee rammen musste. »Du musst sie dabei immer senkrecht halten, sonst rutscht dein Fuß weg.« Eine kleine Schneeplatte brach ab und zerplatzte weit unter ihnen – ein anschauliches Beispiel dafür, was Torak drohte, wenn er etwas falsch machte. »Folge mir«, rief Dark über seine Schulter.
Seine Stimme trug weit. Torak wollte ihn ermahnen, leise zu sein, doch dann dachte er: Was macht das schon aus? Eostra weiß, dass wir hier sind. Sie will es so.
Schlagartig wurde ihm klar, wie verrückt sein Vorhaben war. Er hatte keine Axt, keinen Bogen, keinen Plan. Er wollte nur eines: den Weg zur Flüsterhöhle finden und … ja, was dann? Wie hatte er bloß glauben können, er könne die Macht der Adlereulenschamanin brechen? Er war genauso hilflos wie jener junge Hase in den Fängen des Rudels.
Bin ich verrückt?, fragte er sich. Liegt es daran, dass ich dem Himmel zu nahe gekommen bin?
Renn würde nur die Augen verdrehen, um ihm deutlich zu zeigen, was sie davon hielt. Torak vermisste sie so sehr, dass er sich richtig krank fühlte.
»Hier machen wir die Kehre«, sagte Dark, der weiter vorn auf Torak wartete.
Wolf stand neben Dark und wedelte hechelnd mit dem Schwanz. Als er Toraks Kummer spürte, trottete er zu ihm zurück. Seine Pfoten wirbelten glitzernde Schneeflocken auf. Ich bin bei dir , sagte er zu Torak.
»Es ist nicht mehr weit«, rief Dark.
Sie marschierten weiter, jetzt gegen die Sonne. Als er einen flüchtigen Blick nach unten warf, sah Torak Schatten den Berg heraufkriechen. Bald brach die Nacht der Seelen an.
»Da«, sagte Dark leise. »Das ist der Eingang. Die Narbe.«
Als er die Hand über die Augen hielt, sah Torak einen Spalt in der Bergwand. Zu beiden Seiten war eine Hand in den Fels gemeißelt. Von den Mittelfingern gingen Kraftlinien zur Abwehr des Bösen aus.
Vergebens. Die Hände waren von Krallenspuren zerfurcht und die Kraft der Linien damit aufgehoben. Eostra war der Zugang nicht mehr verwehrt.
Torak spürte den Hauch der Narbe kühl auf dem Gesicht; das Erdblut auf seiner Haut wurde hart und spannte. Dort drinnen wartete der Tod auf ihn. Oder schlimmer noch: der unvorstellbare Schrecken, völlig verloren zu sein.
Seine Seele wehrte sich entschieden dagegen. Ich mache es nicht! Soll doch ein anderer gegen Eostra kämpfen! Warum muss ich es denn sein?
Er ergriff die Flucht, kletterte blindlings den Steilhang hinauf, bis er stolperte und auf die Knie fiel.
Als er den Kopf hob, stellte er fest, dass seine Flucht ihn ein ganzes Stück höher hinaufgebracht hatte, denn mit einem Mal sah er, was dem Blick bisher verborgen gewesen war: Der Berg war tatsächlich der östlichste Gipfel, doch dahinter lag mitnichten das Ende der Welt. Dort unten erstreckte sich bis zum fernen Horizont ein anderer Wald.
Ehrfürchtig
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