Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
nicht mehr, vielleicht hatte es sie nie gegeben, ebenso wenig wie die Anspannung, die früher einmal in seinem Nacken gesessen und ihn gefoltert hatte. Alles, was er wahrnahm, war die Stille, die ihn ausfüllte, und er spürte das Licht grausam und heilend zugleich durch seine Gedanken streichen. Gleich würde er das Herz dieses Klosters erreichen, gleich würde er erkennen, was sich in diesem Schrein verbarg! Er trat den letzten Schritt auf den Altar zu, mit weit aufgerissenen Augen sah er in das Licht – und erstarrte. Es barg kein Geheimnis, kein Rätsel, keinen Schatz.
Das Herz dieser Festung war leer.
Im nächsten Moment riss Avartos’ Hand ihn zurück. Er hörte noch die Worte des Abwehrzaubers, der über die Lippen des Engels kam – und gleich darauf das Zischen dicht an seinem Kopf, als hätte ein Pfeil ihn nur knapp verfehlt. Etwas berührte ihn im Nacken, kaum mehr als der feine Kratzer eines spitzen Fingernagels, aber sofort flutete ihn lähmende Kälte und nahm ihm die Kontrolle über seinen Körper. Er sackte auf die Knie, seine Arme und Beine zuckten in heftigen Krämpfen, seine Eingeweide wurden zusammengepresst, und gleich darauf sah er das Licht, das aus seinem Inneren aufstieg und in gleißender Helligkeit in seinem Schädel explodierte. Der Schmerz war so stark, dass Nando zusammenbrach. Kopfüber stürzte er in dieses Licht, es bohrte sich in ihn hinein und riss ihn mit grausamer Stille in Fetzen. Er wollte schreien, um zu wissen, dass er noch da war, doch er konnte seine Stimme nicht hören. Er spürte gar nichts mehr bis auf die Kälte, die soeben in seinen Körper gefahren war und als überirdisches Licht vor seinem inneren Auge stand. Hilflos starrte er hinein, doch gerade als er den Anblick nicht mehr ertrug, wurde es schlagartig dunkel. Und aus der Finsternis heraus, lautlos wie Schatten, traten zwölf Gestalten in langen Kutten, die Gesichter unter Kapuzen verborgen, die pechschwarzen Schwingen wie gewaltige Schemen hinter sich aufragend. In unheimlicher Gleichzeitigkeit kamen die Engel näher.
»Verzeiht«, brachte Avartos hervor. »Wir sind auf der Suche nach Hadros … «
Er sagte noch mehr, doch ein plötzlicher Wind riss jedes Wort von seiner Zunge. Kurz standen die Engel regungslos da, dann trat einer von ihnen vor.
»Hadros«, zischte er, und seine Stimme grub sich tief in Nandos Fleisch. »Er hat hier nie … gelebt. Ihr seid hier eingedrungen, ohne gerufen worden zu sein. Wisst ihr, was das für euch bedeutet?«
Das letzte Wort strich geisterhaft durch Nandos Haar. Er wollte etwas erwidern, doch er brachte keinen Ton über die Lippen. Wie erstarrt schaute er auf die Hand des Engels, die nach ihm griff. Durchscheinend weiß war sie mit schwarzen, eingerissenen Nägeln. Nando wusste, dass sie noch niemals das Tageslicht gefühlt hatte oder den Schein des Mondes. Diese Hand war dem einzig wahren Licht geweiht, und allein ihr Anblick ließ ihn frösteln.
»Es bedeutet, dass ihr lernen müsst, mit den inneren Augen zu sehen«, raunte der Engel. »Denn ihr werdet sein wie wir! Ihr werdet erfahren, was euer Frevel bedeutet!«
Langsam zog der Mönch die Kapuze von seinem Schädel. Nando schaute in ein eingefallenes Gesicht, auf Haut wie uraltes Pergament, einen Mund mit schmalen, grausamen Lippen – und in das Nichts leerer Augen, denn dort, wo er das flammende Gold der Engel erwartet hatte, empfing ihn nichts als Finsternis. Das Entsetzen peitschte durch Nandos Adern, und noch ehe er begriff, was geschah, zogen auch die anderen Engel die Kapuzen zurück. Sie alle waren blind. Sie hatten sich die Augen herausgerissen.
Nando wollte zurückweichen, er spürte, wie Kaya von seiner Schulter gerissen wurde, und sah aus dem Augenwinkel, wie Avartos und Noemi sich vergebens gegen unsichtbare Bannzauber zur Wehr setzten. Dann legte der Mönch die Hand um Nandos Kehle. Übermächtige Kälte jagte durch seine Glieder. Er fühlte schon, wie ihn das Bewusstsein verließ, doch das grausame Lächeln sah er noch, als er rücklings in die Finsternis fiel, und er hörte sie deutlich in seinen Gedanken, die letzten Worte des Engels:
Er bedeutet – das Licht!
17
Dunkelheit.
Avartos spürte seinen eigenen Atem im Gesicht. Ihm war ein raues Gewebe über den Schädel gezogen worden, das nach verbrannter Haut und schwarzem Blut roch, und er musste unwillkürlich an die leeren Augenhöhlen der Brüder des Lichts denken, die ihn mit nicht mehr als einem Fingerzeig außer Gefecht gesetzt hatten.
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