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Die Delegation

Die Delegation

Titel: Die Delegation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Erler
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vergessen. Ich wollte sie fragen – was wollte ich fragen…?
    »Sehr amerikanisch wirkst du eigentlich nicht, Jessica.«
    »Findest du!«
    »Finde ich, ja.«
    »Du hast also ein fertiges Bild, wie amerikanische Girls auszusehen haben.«
    »Zumindest hab’ ich ein Bild davon, wie sie normalerweise nicht aussehen.«
    Sie zog den breiten Mund noch mehr in die Breite und sah herüber. Lange. Wir standen an einem Rotlicht.
    »Mein Vater ist Spanier, meine Mutter Jüdin – aus Deutschland.«
    »Aha. Darum.«
    »Ja, darum! – Und geboren bin ich in Mexiko, in Chihuahua!«
    »Deshalb der mexikanische Hut.«
    »Ja, deshalb der mexikanische Hut.«
    »Du trägst ihn immer?«
    »Manchmal nehme ich ihn auch ab…« Wir fuhren weiter.
    Außer meinem Hotel hatte sie mir noch keine Sehenswürdigkeiten gezeigt.
    Einige Kapellen und Kirchen sind mir noch in Erinnerung, bunt angestrahlt und mit zuckender Neonreklame garniert. HE’s still ALIVE!
    Alles andere verlor sich im Nebel der Gleichförmigkeit. Wir schwiegen wieder. Jessica sah konzentriert nach vorne, hinaus auf die Straße, auf diese langsam dahinschleichende Kolonne.
    Man sitzt so weit voneinander entfernt in diesen breiten amerikanischen Wagen. Viel Platz war zwischen uns, viel zuviel! Ich schaute sie an, lange, dieses schmale Profil, hinter dem die Lichter vorbeiwanderten. Ein Spanier, eine Jüdin, Chihuahua.
    Sie spürte schließlich meinen Blick, sah kurz herüber. »Was ist?«
    Einiges, Jessica, einiges… ziemlich viel sogar und immer mehr – mit mir, um ehrlich zu sein. »Wo fährst du mich eigentlich hin?«
    »Nirgendwohin. Nur so, spazieren. Aus Spaß!« Glückliche Jessica, sie kann in dieser Stadt zwischen Abgasen und Kolonnen noch Freude empfinden am Spazierenfahren…
    »Können wir nicht einfach aussteigen und gehen?« Sie war sehr überrascht. »Nein, das können wir nicht…!«
    Ein paar junge Männer, die neben ihr fuhren, blickten herüber, winkten. Sie registrierte es nicht. »… höchstens unten am Strand, am Pazifik!«

60
     
     
     
    Der Wind hatte die Wolken vertrieben und war erschöpft eingeschlafen. Es war einer dieser geradezu perversen Vollmondnächte. Ein eiskaltes Licht, scharf und unbarmherzig, lag über dem Strand, über dem Meer.
    Man sah kilometerweit: jede Hütte, jede Buhne, jede Kontur, die weißen Schaumkronen der Wellen bis zum Horizont – auslaufende Dünung.
    Feuer brannten, von irgendwoher wehte Gesang, die Melodie einer Gitarre. Pärchen lagen im Sand, dunkle Schatten, regungslos, schamlos. Den Flutsaum entlang standen einsame Gestalten, die Angler mit ihren meterlangen Ruten. Auch sie verharrten fast ohne Bewegung, bis auf jenen kurzen Augenblick, wo sie Schnur und Köder durch die Luft pfeifen ließen und hinaus schleuderten in die Brandung. Wir waren weit gegangen, eine Stunde, zwei. Schweigend. Es gab nichts zu bereden, keine Frage, keine Probleme, die Vergangenheit hatte aufgehört, wichtig zu sein. Wir gingen schnell, rasche Schritte im weichen Sand, im gleichen Rhythmus, Hand in Hand, ein kindlicher Kontakt, vertrauensvoll, alles umfassend, ein erregendes Spiel der Finger, ein Griff, der immer fester wurde, der Übereinkunft signalisierte. Der Strand hatte sich geleert, war einsam geworden, ein paar Hunde liefen hinter uns her, scharrten im angeschwemmten Unrat, verschwanden wieder zwischen verfallenen Hütten. Betonklötze lagen im Sand, Eisenträger, Schienen. Eine lange Reihe Lagerschuppen riegelte uns den Weg ab zur Stadt, ein mannshoher Zaun begleitete uns, drängte den immer schmaler werdenden Sandstreifen ab ins Meer, versperrte uns schließlich den Weg.
    Drohende, schwarze Monster ragten dahinter in die Nacht, Kräne und Schiffsrümpfe, urtümliche Ungeheuer im flirrenden Mondlicht. Eine Öffnung im Gitterwerk des Zaunes: verrostet, zerbrochen, wir schlüpften hindurch, ein toter, stählerner Wald, Industriesteppe, verlassen, unheimlich, der Boden aufgewühlt, wir sanken ein in Schlick und Morast, dann wieder Eisenplatten, Beton.
    Aber hier fanden wir endlich Schatten, fanden Schutz vor diesem unirdischen, unmenschlichen, unbarmherzigen Licht. Wir blieben stehen. Teer und Tang und Sandelholz.
    Nein, ihr Mund war nicht zu breit, ihre Brüste waren nicht zu klein, das Cape lag schon im öligen Sand, ein winziges Liebeslager zwischen Rost und Schlick.
    Da drehte der Wind. Es war doch der Wind? Ein Aufseufzen, ein metallisches Kreischen. Ein schauerliches Klagen hoch über uns im Gestänge der Kräne und Winden.

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