Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
ihr geschundenes Vaterland neu erstehen sollte. Und sie waren nicht die Einzigen, die mit großen Erwartungen in die neue Zeit gingen. Überall in Osteuropa wollten sich nationale Bewegungen endlich die Rechte nehmen, die ihnen von den Monarchen verwehrt worden waren.
Am 7. Oktober 1918 proklamierten die Machthaber in Warschau einen unabhängigen polnischen Staat und übernahmen einige Tage darauf die Befehlsgewalt über die Armee. Drei Wochen später stürmten auch die benachbarten Tschechen voran in die Unabhängigkeit. In Prag wurde die Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Der Philosoph und Politiker Tomáš G. Masaryk, der bald danach zum ersten Präsidenten gewählt wurde, hatte es in den Monaten zuvor vermocht, Amerikanern, Briten und Franzosen deren Bedenken gegen die Staatsgründung auszureden. Von einer Beruhigung der Lage konnte aber keine Rede sein. Für die Deutschen, die im Osten des Reiches ansässig waren, fing der Ärger jetzt erst richtig an.
In der preußischen Provinz Posen zum Beispiel kam es Ende Dezember 1918 zu einem Aufstand gegen die deutsche Obrigkeit. Auslöser war eine friedliche Demonstration polnischer Bürger in der Provinzhauptstadt Posen. Sie hatten sich in großer Zahl versammelt, um ihr Idol Paderewski zu ehren. Der aus Amerika zurückgekehrte Freiheitsheld befand sich auf der Reise nach Warschau, wo er zum Ministerpräsidenten des jungen Staates ernannt wurde. Der antideutsche Handstreich brachte die Provinz Posen weitgehend unter polnische Kontrolle. Die völkerrechtliche Legitimierung durch den Friedensvertrag von Versailles ließ dann nicht lange auf sich warten. Das hatten sich die Deutschen ganz anders vorgestellt. Weder für die Militärs noch für die Masse der Bevölkerung war ja der Untergang der Monarchie gleichbedeutend mit einer totalen Niederlage. Das Land sei »im Felde unbesiegt«, lautete ein geflügeltes Wort. Die Erwartungen, Deutschland würde im Friedensvertrag glimpflich davonkommen, waren groß, und sie stützten sich auf tatsächliche oder vermeintliche Versprechungen von US-Präsident Wilson. Es war, wie es häufig ist: Jeder hörte, was er hören wollte. In deutschen Ohren klang Wilsons Parole vom Recht auf nationale Selbstbestimmung eher nach Vergrößerung als nach Verkleinerung. Millionen Österreicher und Sudetendeutsche hofften nach dem Zerfall der Wiener k. u. k. Monarchie auf den Anschluss ans Deutsche Reich.
Wunschdenken und Irrtümer gab es nicht nur auf Seiten der Verlierer, auch die Sieger fanden keine klare Linie. Der neue Anspruch, den Völkern ihre nationale Selbstbestimmung
zu überlassen, kollidierte vielfach mit herkömmlicher Machtpolitik. Wie sie ihre Prioritäten zu setzen gedachten, machten die Alliierten rasch deutlich: Als die Provisorische Nationalversammlung in Wien im November 1918 den Beschluss fasste, Österreich an Deutschland anzuschließen, kam sogleich das Veto der Siegermächte. Es störte auch nicht weiter, dass die aus dem Habsburgerreich hervorgegangene Tschechoslowakei ein neuer Vielvölkerstaat war, in dem die nationale Mehrheit der Tschechen zumindest in den Anfangsjahren etwas gleicher war als die Minderheiten. Slowaken und Ungarn stellten einen erheblichen Anteil der Bevölkerung; die größte dieser Gruppen aber waren die Deutschböhmen, für die sich rasch die von einem Gebirgszug hergeleitete Bezeichnung Sudetendeutsche einbürgerte. Als frischgewählter Präsident stellte Masaryk sogleich die Verhältnisse klar: »Wir – die Tschechen – haben unseren Staat geschaffen. Dadurch wird die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen bestimmt, die ursprünglich als Immigranten und Kolonisten ins Land kamen.« Später ging Masaryk zwar auf die Sudetendeutschen zu, aber der Ton war gesetzt.
Freiheitsheld Paderewski
Republikgründer Masaryk
Oberschlesien-Kämpfer Korfanty
Das Versailler Diktat
Zu Beginn des Jahres 1919 richteten sich die Augen der Welt auf Paris. Dort tagte die erste Mega-Konferenz des 20. Jahrhunderts mit dem Ziel, der Welt eine neue Ordnung, eine Friedensordnung zu geben. Das jedenfalls war die erklärte Absicht des US-Präsidenten, der monatelang in der französischen Hauptstadt Quartier bezog. Für Wilsons Verhandlungspartner – den Franzosen Georges Clemenceau, den Briten David Lloyd George und den Italiener Vittorio Orlando – war es eher ein Lippenbekenntnis. Meist kamen die vier in der Residenz des amerikanischen Präsidenten zusammen, wo sich die Herren über riesige Landkarten
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