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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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verbreiteten die neuen Herren Statistiken darüber, wie stark der Anteil der Deutschen im ehemaligen Reichsgebiet zurückging – vielerorts von mehr als der Hälfte der Einwohner auf einstellige Prozentanteile.
    Kampf um Oberschlesien
    Besonders schwierig waren die Verhältnisse in Oberschlesien. In der Region um Oppeln und Kattowitz hatte sich über die Jahrhunderte ein multiethnisches Patchwork herausgebildet, in dem deutsche und polnische, jüdische und tschechische Identitäten miteinander verwoben waren. Aber das Zeitalter des Nationalismus hatte auch in Oberschlesien seine Spuren hinterlassen. Der Germanisierungspolitik stand eine polnische Nationalbewegung gegenüber, die das slawische Selbstbewusstsein hochhielt. Durchaus mit Erfolg: Bei der Reichstagswahl 1907 kam die Polnische Nationaldemokratische Partei (Polenpartei) im Regierungsbezirk Oppeln auf 39,5 Prozent der Stimmen.
    Nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages mussten die deutsche Armee und die Beamtenschaft abziehen. Die Verwaltung übernahm eine alliierte Kommission unter Vorsitz eines französischen Generals. Es war eine Zeit der Wirren, die sich bis zum Bürgerkrieg hochschaukelten. Auf deutscher wie auf polnischer Seite kämpften Geheimorganisationen und paramilitärische Verbände um die regionale Vorherrschaft. Oberschlesien wurde zum Aufmarschgebiet der Freikorps, die in den Gründungsjahren der Weimarer Republik eine unheilvolle Rolle spielten. Geradezu ein Markenzeichen der oberschlesischen Wirren waren auf deutscher Seite die sogenannten Fememorde: Tatsächliche oder vermeintliche Verräter wurden ohne viel Federlesens umgebracht. Anlass war häufig der bloße Verdacht, mit den Polen gemeinsame Sache zu machen. Der Historiker Bernhard Sauer, der die Fememorde im Detail untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis: »Es waren in der Regel Unschuldige, die ermordet wurden«, und »die Opfer hatten nicht die geringsten Möglichkeiten, sich gegen die erhobenen
Beschuldigungen zu verteidigen«. Eines der Opfer war Josef Nowak. Der angebliche polnische Spion, sagten seine Söhne später, »hatte sich lediglich wiederholt dahin geäußert, dass der gegenseitige Brudermord in Oberschlesien sinnlos wäre, da das Volk sowieso verraten und verkauft sei. Man könne das gegenseitige Morden unmöglich als einen Kampf um die Freiheit bezeichnen.« Den Mord an ihrem Vater schildern die Söhne in allen blutigen Details: »Um Mitternacht des 4. Juni wurde er plötzlich von sogenannten Grenzschutzsoldaten aus dem Bett geholt und wie ein Tier durch das Dorf getrieben, wobei die Soldaten fortgesetzt mit Seitengewehren und Gewehrkolben auf ihn einschlugen.« In derselben Nacht schnappten sich die Fememörder drei weitere Männer. Zuletzt warfen sie ihre Opfer in einen Steinbruch und schlugen sie dort tot. Besonders berüchtigt war die »deutsche Spezialpolizei«, geleitet von Heinz Oskar Hauenstein. Als Zeuge vor Gericht sagte Hauenstein einmal auf die Frage, wie viele Fememorde seine Organisation in Oberschlesien begangen habe: »Die genaue Zahl kann ich nicht angeben. Aber ich habe mir einen kleinen Überschlag gemacht und bin auf die Zahl 200 gekommen.« Da im Juni 1922 eine Amnestie für politisch motivierte Straftaten erging, blieben Verbrecher wie Hauenstein straffrei.
    Führender Kopf auf polnischer Seite war Wojciech Korfanty, der bis 1918 den Vornamen Albert trug. Von 1903 bis 1912 hatte er als Abgeordneter der Polenpartei dem Deutschen Reichstag angehört. Nach dem Versailler Frieden ernannten ihn die Alliierten zum polnischen Kommissar für die Organisation des Plebiszits. Gleichzeitig wussten alle, dass Korfanty auch den bewaffneten polnischen Kampf anführte. Jedem Teilnehmer versprach er eine Kuh als Geschenk, sobald Oberschlesien polnisch wäre – die Korfanty-Kuh wurde bald sprichwörtlich. Am 20. März
1921 fand schließlich die Abstimmung über die künftige Staatszugehörigkeit Oberschlesiens statt. 707 000 Stimmen entfielen auf Deutschland, 479 000 auf Polen. Nach dem unklaren Ergebnis brachen heftige Konflikte um die künftige Grenzziehung aus. Mit französischer Unterstützung besetzten Korfantys Freischärler einige Gebiete, in denen die Menschen überwiegend für Polen gestimmt hatten. Im Mittelpunkt des polnischen Aufstandes stand das katholische Kloster St. Annaberg. Aber die Deutschen schlugen zurück, allen voran Hauensteins Paramilitärs, die sich mittlerweile »Organisation Heinz« nannten. Ende Juni 1921 schlossen die

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