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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Bürgerkriegsparteien einen Waffenstillstand.
    Die Alliierten teilten Oberschlesien schließlich auf, ein Vertragswerk besiegelte im Mai 1922 die neue Ordnung. 30 Prozent der Fläche, aber 46 Prozent der Bevölkerung kamen zu Polen. Die Deutschen mussten auch das ökonomische Filetstück abgeben, die Industrieregion um Kattowitz. Die meisten oberschlesischen Bergwerke und Hütten wurden polnisch.
    Über den Tag der offiziellen Machtübernahme in Kattowitz, das nunmehr Katowice hieß, bemerkte Korfanty später: »Für mich war es der schönste Tag in meinem Leben.«
    Für die Deutschen blieb die Ostgrenze eine offene Wunde. Berlin war zwar realistisch genug, 1925 im Vertrag von Locarno die neue Westgrenze zu akzeptieren. Aber gegenüber dem Nachbarn im Osten gelobte die Reichsregierung lediglich Gewaltverzicht, mehr nicht.
    Damit war es 1939 auch vorbei. Mit dem Angriff der Deutschen auf Polen begann der Zweite Weltkrieg.

Auf verlorenem Posten
    Sudetendeutsche Sozialdemokraten suchten eine Verständigung mit den Tschechen. Sie kämpften gegen den »Anschluss« ans Hitler-Reich, wurden von den Nazis verfolgt – und mussten doch auch ihre Heimat verlassen.

    Von Norbert F. Pötzl

    Der Textilarbeiter Josef Seliger, Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung Deutsch-Österreichs, beschrieb schon im November 1918 die Lage nüchtern: Die von Deutschen bewohnten Regionen Böhmens, »acht voneinander durch die breite Kluft des tschechischen Siedlungsgebiets geschiedene und so weit auseinandergerissene Landfetzen«, seien unmöglich »zu einem einheitlichen Staats- oder Verwaltungsgebiet zu vereinigen«. Trotzdem protestierte der stellvertretende Landeshauptmann Seliger bei der neuen Regierung in Prag, als tschechisches Militär die noch zu Österreich gehörenden Gebiete am 3. November 1918 besetzte. Und er rief, weil die deutschböhmischen Abgeordneten am 4. März 1919 nicht an der konstituierenden Sitzung der neuen österreichischen Nationalversammlung teilnehmen durften, zum Generalstreik und zu Kundgebungen »für das Selbstbestimmungsrecht« auf.
    Zehntausende demonstrierten an diesem Tag in den deutschsprachigen Grenzgebieten der im Oktober 1918 ausgerufenen Tschechoslowakischen Republik für einen Anschluss an Österreich. Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs hatten Tschechen
und Slowaken mit Billigung der Siegermächte einen Nationalstaat gegründet – die 3,2 Millionen Deutschböhmen, die 23 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, wurden nicht gefragt. Der Tag endete blutig: Tschechische Sicherheitskräfte schossen an mehreren Orten in die Menge und töteten 53 Menschen. Der 4. März 1919 wurde zu einer schweren Hypothek für das weitere Zusammenleben von Tschechen und Deutschen.
    Wie der Arbeiterführer Seliger, der im Sommer 1919 zum ersten Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei (DSAP) in der ČSR gewählt wurde, schwankten viele seiner Landsleute zwischen Einsicht ins Unabänderliche und Aufbegehren gegen Unterdrückung durch die nationalistische tschechische Mehrheit. Zwar hatte Fritz von Gebsattel, seit 1909 deutscher Generalkonsul in Prag und mit den Verhältnissen im Land vertraut, in einem Bericht ans Berliner Auswärtige Amt im Oktober 1918 die Aussichten optimistisch beurteilt. Auch wenn »selbstverständlich nicht alle … nationalpolitischen Wünsche« der Deutschen »Erfüllung fänden«, meinte der Diplomat, »so könnten sie doch in dieser Beziehung des größten Entgegenkommens von Seiten der Tschechen sicher sein«. Denn es liege »im dringendsten eigensten Interesse« der Tschechen, »die kulturell und wirtschaftlich hochentwickelte, kapital- und steuerkräftige deutsche Minorität auf nationalem und wirtschaftlichem Gebiet zufriedenzustellen«.
    Aber Gebsattel täuschte sich. Die »Sudetendeutschen«, wie man sie nun nach dem Gebirgszug im Norden der ČSR nannte, wurden zunehmend drangsaliert. Im Herbst 1924 wurden 7000 deutsche Eisenbahner entlassen und durch Tschechen ersetzt, Ähnliches geschah dann auch bei Post, Polizei und Zoll. Das war Wasser auf die Mühlen deutscher Nationalisten und schwächte die auf Ausgleich bedachten
Kräfte. Der Nachfolger des 1920 gestorbenen Seliger, der Brünner Rechtsanwalt Ludwig Czech, setzte leidenschaftlich auf die Zusammenarbeit »von Volk zu Volk«. Doch die DSAP, die im April 1920 bei den ersten Wahlen zum Prager Parlament 44 Prozent aller deutschen Stimmen bekommen hatte, verlor 1925

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