Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
die Hälfte ihrer Wählerschaft. Vier Jahre später wurde Czech, wie zwei weitere deutsche Politiker vom Bund der Landwirte und von den Christlich-Sozialen, sogar Minister in der Prager Regierung. Aber sie waren nur Feigenblätter für die tschechische Mehrheit, die auch die Slowaken und Ungarn im Ostteil der Republik gegen sich aufbrachte.
Die Weltwirtschaftskrise, die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenzahl unter den Deutschböhmen und deren fortschreitende Diskriminierung brachten der nationalistischen Sudetendeutschen Partei (SdP) des Bankangestellten und Turnerbund-Funktionärs Konrad Henlein aus Asch großen Zulauf. Bei den Parlamentswahlen 1935 errang die SdP 44 der 66 deutschen Sitze. Henlein versicherte Hitler im November 1937 in einem geheim gehaltenen Brief, die SdP sei nationalsozialistisch und ersehne nichts mehr als die »Einverleibung ins Reich«. Dagegen kämpfte die DSAP nun an der Seite tschechischer Patrioten. Immer öfter kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Henlein-Anhängern und ihren Gegnern. Der sudetendeutsche Sozialdemokrat Volkmar Gabert, der später SPD-Vorsitzender in Bayern wurde, erinnerte sich an die »bürgerkriegsähnliche Situation« 1937/38: In den Arbeitergebieten seines Heimatbezirks Teplitz-Schönau, wo es »fast überall sozialdemokratische Mehrheiten« gab, organisierte die DSAP Motorradstaffeln der »Republikanischen Wehr«, die versuchte, die Republik mit Waffen gegen die Übergriffe der Henlein-Partei zu schützen.
Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland im Oktober 1938
Zwei Wochen bevor Ende September 1938 die Abtretung des Sudetenlands an das Deutsche Reich besiegelt wurde, rief Wenzel Jaksch, der im März jenes Jahres Czech im DSAP-Vorsitz abgelöst hatte, Deutsche und Tschechen zur Besonnenheit auf: »Lassen wir uns nicht einreden, dass das eine Volk nur aus Teufeln besteht und das andere nur aus Engeln.«
Das Münchner Abkommen bedeutete für die deutschböhmischen Demokraten ein ebenso großes Debakel wie für die Tschechen. »Die Großmächte«, klagte Jaksch, »haben über die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete entschieden. Wir sind die Opfer dieser Entscheidung geworden.«
Während die Mehrheit der Sudetendeutschen der einrückenden Wehrmacht zujubelte, flohen die DSAP-Funktionäre ins Landesinnere Böhmens. In der letzten Ausgabe der Parteizeitung »Sozialdemokrat« am 9. November 1938 schrieb Jaksch: »Es ist das Recht des Besiegten, den Kopf hoch zu tragen, wenn er für eine gute Sache gestritten hat und durch fremde Schuld gefällt worden ist. Ein gewaltiges Schicksal hat uns auf verlorenen Posten gestellt.«
Nachdem Hitlers Armee am 15. März 1939 auch in die sogenannte Rest-Tschechei einmarschiert war, mussten die antinazistischen Deutschen um ihr Leben fürchten. Von den rund 80 000 DSAP-Mitgliedern flohen schätzungsweise 30000 ins Ausland, über 10 000 wurden zumindest zeitweilig inhaftiert. Unter denen, die das Land verließen, war auch Wenzel Jaksch. Der 1896 geborene Böhmerwäldler schlug sich, als Wintersportler getarnt, zu den Beskiden durch, einem Mittelgebirge an der polnischen Grenze. Die letzte Nacht in seiner Heimat verbrachte er in dem kleinen Dorf Ostravica bei einer Bauernfamilie. Mit ihr trank er und sang unter anderem das Volkslied »Teče voda, teče«, eine Lieblingsweise des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš G. Masaryk. Jaksch notierte: »Es war ein
rührender Abschied von den kleinen Leuten des tschechischen Volkes.« Jaksch emigrierte nach England. Das ersparte ihm das Schicksal seines Vorgängers Czech, der 1942 im KZ Theresienstadt starb. Mit dem Präsidenten der tschechischen Exilregierung, Edvard Beneš, traf sich Jaksch erstmals am 3. August 1939 in London. Aber vergebens bemühte er sich, die von Beneš immer nachdrücklicher geforderte Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Krieg durch eine Übereinkunft zu verhindern. Nach Kriegsende musste Jaksch untätig miterleben, wie Beneš die Deutschen generell zu »menschlichen Ungeheuern« erklärte, die man aus dem Land jagen müsse. Erst 1949 ging Jaksch aus England in die Bundesrepublik und zog 1953 für die SPD in den Bundestag ein.
Als Nachfolger von Hans Krüger (CDU), der 1964 wegen seiner NS-Vergangenheit als Vertriebenenminister zurücktreten musste – er hatte bereits am Hitler-Putsch 1923 teilgenommen und war während des Krieges als »Sonderrichter« für zahlreiche Todesurteile im heutigen Polen verantwortlich – ,
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