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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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wurde Jaksch zum Präsidenten des Bundes der Vertriebenen gewählt. Bei Jaksch konnten die Delegierten sicher sein, dass er eine weiße Weste ohne braune Flecken hatte.

Zweierlei Erbe
    Danzig, die einst so reiche Hansestadt, erlebte eine lange, wechselvolle Geschichte zwischen Deutschen und Polen, bis sie Feinde wurden – und sich wieder versöhnten.

    Von Annette Großbongardt

    Auch wenn hier der Zweite Weltkrieg ausbrach, die Hecken müssen doch geschnitten werden. Gleich neben den Heldengräbern von Major Henryk Sucharski und seinen im Kampf gefallenen Kameraden lassen die städtischen Gärtner ihre Motorsägen knattern. Es ist ein kalter, regnerischer Herbstmorgen, nur ein paar Besucher bleiben an dem kleinen Friedhof der Gedenkstätte Westerplatte stehen, betrachten die Trümmer der zerschossenen Kaserne, steigen die Anhöhe zum Mahnmal empor und denken: Hier also war es.
    Hier auf der polnischen Halbinsel, einst ein beliebtes Ostseebad, begann am 1. September 1939 »bei anhaltend schönem Spätsommerwetter«, wie der Danziger Günter Grass später notierte, jener Wahnsinn, in dem rund 60 Millionen Menschen sterben sollten. Grass war damals elf Jahre alt, er hörte den Geschützdonner im Arbeiterviertel Langfuhr, wo seine Eltern einen kleinen Kolonialwarenladen betrieben. Es war 4.45 Uhr, als das deutsche Kriegsschiff »Schleswig-Holstein« seine Granaten auf das polnische Munitionslager auf der Westerplatte feuerte. Major Sucharski und seine 180 Männer wehrten sich so standhaft, dass die Deutschen Sturzkampfbomber einsetzen mussten, um den Widerstand zu brechen.

    Nur 15 Minuten braucht man mit dem Auto von hier bis zur Danziger Innenstadt, in der nichts mehr an diesen Krieg erinnert. Die Altstadt, die zu über 90 Prozent in Trümmern lag, sieht so schön und prächtig aus wie zu ihren Glanzzeiten im 16. und 17. Jahrhundert: die alten Patrizierhäuser mit ihren eleganten Stufengiebeln, fast jede Fassade ein Kunstwerk der Backsteingotik, der Renaissance oder des flämischen Manierismus. Vom Turm des Rechtstädtischen Rathauses überblickt man die liebevoll restaurierten Gassen, die Zugänge zur Stadt, die aussehen wie Triumphbögen. Im schlossartigen »Grünen Tor«, einst als Residenz der polnischen Könige gebaut, hat nun Lech Walesa sein Büro.
    Danzigs Rechtstädtisches Rathaus am Langen Markt (Fotochromdruck um 1895)
    Die Altstadt von Danzig wurde so früh und so gelungen wiederaufgebaut wie nur wenige andere im zerbombten Nachkriegseuropa. Es sieht so aus wie früher, und doch ist alles ganz anders. Danzig heißt nun Gdansk, hat 450 000 Einwohner und gehört zur polnischen Woiwodschaft Pomorskie, Pommern. Vor dem Krieg lebten hier 95 Prozent Deutsche, in der Schillerstraße, der Hundegasse und am Langen Markt, der Prachtstraße der Stadt. Heute gibt es hier nur noch etwa tausend Deutschstämmige, und die Straßen heißen jetzt Kasprowicza, Ogarna und Dlugi Targ. Für die geflüchteten und vertriebenen Deutschen kamen Ost-Polen, die ihrerseits von den Russen verdrängt worden waren. Der Schriftsteller Stefan Chwin, selbst Danziger, nennt sie deshalb »Stadt der doppelten Vertreibung«. Aber auch das deutsche Danzig der Vorkriegszeit ist nur ein Teil der Geschichte. Bevor die reiche Hansestadt 1793 an Preußen fiel, 1871 schließlich Teil des Deutschen Reiches wurde, unterstand sie mehr als drei Jahrhunderte lang der Polnischen Krone.
    Danzig ist eine Stadt der wechselnden Herrscher, die ihre Identität immer wieder neu finden musste. Ihre Geschichte ist die eines glanzvollen Aufstiegs – und des totalen Verlustes. Polnische und deutsche Familiengeschichten kreuzten sich hier früh zu europäischen Biografien.
    Im Jahr 997, als Danzig zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde, lebten dort baltische und pomoranische Siedler. Um 1200 entstand die erste deutsche Gemeinde. Selbstbewusst erhob sich die Stadt 1454 gegen den herrschenden deutschen Ritterorden. Der polnische König Kasimir IV. Jagiello dankte es den Danzigern mit Privilegien, darunter dem Recht, eigene Münzen zu prägen. Das sollte ihren enormen Wohlstand mitbegründen. So wuchs Danzig zur reichsten Stadt in Polen und zum wichtigsten Ostseehafen. 80 Prozent des Exports, vor allem Getreide, flossen von hier ins übrige
Europa. Neben Deutschen und Polen bevölkerten Niederländer, italienische Bankiers, Franzosen, Schotten, Engländer und Ungarn die Hansestadt, russische Kaufleute trieben Handel. Vergebens protestierten die stolzen Danziger

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