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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Ratsherren gegen die zweite polnische Teilung, mit der sie an Preußen fielen – seitdem weigerten sie sich, ihre Amtsroben zu tragen. Die Stadt verkam zur preußischen Provinz, erst die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte wieder etwas Aufschwung, vor allem mit dem Schiffbau.
    Als Günter Grass 1927 hier geboren wurde, war Danzig ein Kuriosum. Nach dem Ersten Weltkrieg war die deutsche Stadt vom Reich abgetrennt worden und unterstand nun als »Freie Stadt Danzig« der Aufsicht des Völkerbundes. Außenpolitisch gehörte sie zu Polen.
    Die merkwürdige Konstruktion sollte dem gerade wieder gegründeten Staat den Zugang zur Ostsee sichern. Die Zollbeschränkungen, die immer prekärere wirtschaftliche Lage spürten auch die Eltern von Grass in einem »immer knapperen Warenangebot«. Ihr Geschäft, erinnert sich Grass, lief »mäßig bis schlecht«. Vor allem die Beamtenfrauen ließen anschreiben. Günter musste die Schulden eintreiben, immerhin wurde er mit ein paar Prozent beteiligt.
    Die Nationalsozialisten eroberten Danzig spielend, und auch Günter Grass wurde ein Hitlerjunge, ein »Jungnazi«, wie er später bekannte. Jeden Angriff der Wehrmacht empfand er als berechtigten Schlag gegen die polnischen »Meuchelmörder«. Er diente als Luftwaffenhelfer im Hafen, mit 15 meldete er sich sogar freiwillig zur Wehrmacht.
    Für die 17-jährige Budzimira Muzyk war das Leben da schon längst zur Katastrophe geworden. Die Muzyks, eine reiche, angesehene Familie, gehörten zur polnischen Minderheit Danzigs. Der Großvater war Reeder, auf seinem Salonschiff »Monika« tanzten die Danziger. Budzimiras Vater hatte
einen guten Posten bei der British and Polish Trade Bank, die Familie bewohnte ein großzügiges Apartment, hatte Dienstmädchen, ein Klavier, einen Wagen, ein Häuschen im Grünen. Auch mit den deutschen Nachbarn verstand man sich gut. Deren Tochter Marianne war Budzimiras beste Freundin. Polen und Deutsche, so erinnert sich die Polin, die heute Wojtalewicz-Winke heißt, »lebten ganz normal zusammen«. Ihr Vater liebte Polen glühend, an Feiertagen hisste er die Fahne. Das störte niemanden – bis die Nazis kamen. »Ihr polnischen Schweine, raus aus Danzig!«, brüllten die Hitlerjungen und warfen Steine nach Budzimira, die bei den polnischen Pfadfindern war. Die übermalten Nazi-Plakate, auf denen stand: »Danzig war deutsch, ist deutsch und bleibt deutsch«. Mit dem Vater, Mitglied der nationalistischen Bewegung »Polnischer Westverband«, druckte sie Flugblätter: »Danzig war polnisch, ist polnisch und bleibt polnisch!«
    Im Juni 1939 besuchte Propagandaminister Joseph Goebbels Danzig. »Ich stehe hier auf dem Boden einer deutschen Stadt«, rief er, tönte von »blutsmäßiger Verbundenheit«. »Sieg heil!«, antworteten die deutschen Danziger, sie hatten Transparente gespannt: »Wir wollen heim ins Reich.« SA-Leute stoppten Budzimira und ihre Pfadfinderkameraden, weil sie nicht die Hand zum Hitlergruß erhoben hatten. »Wir sagten, wir sind Polen, wir können uns dazustellen, aber die Hand heben wird nicht«, erzählt Wojtalewicz. Die SA-Männer nahmen sie mit, bedrohten sie, ließen sie aber später wieder frei. »Das waren furchtbare Zeiten«, erinnert sich die heute 86-jährige Polin, die eine ungebrochene Lebenskraft ausstrahlt, »ich habe so viel Hass gesehen.« Noch am Tag des Kriegsbeginns wurde ihr Vater verhaftet und, nach schweren Misshandlungen und Arbeitsdienst, im nahen Konzentrationslager Stutthof erschossen. Fast nackt musste er sich
sein Grab schaufeln, bevor ihn ein Genickschuss traf. Er war 42 Jahre alt.
    Weil sich ihre Mutter einer Zwangsgermanisierung widersetzte, wurde die Familie deportiert. In Warschau schloss sich Budzimira dem Widerstand gegen Hitler an, kämpfte im Warschauer Aufstand. Das letzte Kriegsjahr überlebten sie wieder in Danzig. Bei der Eroberung setzte die Rote Armee alles daran, die Stadt, die Hitler zur Festung erklärt hatte, zu zerstören.
    Die elfjährige Deutsche Helga Joachimiak lag zitternd unter dem Bett, als ihre Mutter von Russen vergewaltigt wurde, »einer nach dem anderen«, es schien nicht zu enden. Ihre Wohnung wurde geplündert, schließlich einfach beschlagnahmt, nun von Polen. In einer Hütte schlugen sie sich durch. Während nach dem Krieg noch mehr als 250 000 Deutsche vertrieben wurden, blieb ihre Familie, weil ihr Vater als Arzt gebraucht wurde. Sie wurden polonisiert, »Einpolung« nennt es Joachimiak. In ihrer Kindheit hatte sie gar keine

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