Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
Vom Netzwerk:
Gewissen.
    Mitgefühl für die Deutschen, sagt er, gab es damals nicht. »Die Menschen, die nach dem Krieg in Danzig angesiedelt wurden, meinten, diese Stadt stünde ihnen als Reparation
zu – als Entschädigung für die unvorstellbaren Leiden, die sie von deutscher Seite erlitten hatten.« Als sein Buch erschien, kritisierte ihn seine Mutter harsch: »Du meinst es zu gut mit den Deutschen, das haben sie nicht verdient.«
    Chwin sitzt im kleinen Dozentenzimmer an der Uni, wo er Literaturgeschichte lehrt. Am Haken hängt seine Helmut-Schmidt-Mütze, die er aus Hamburg von einem Autorentreffen mitgebracht hat. »Du siehst aus wie ein Vorkriegsdanziger«, hört er öfter, wenn er sie trägt.
    Nicht weit entfernt liegt die Lessingstraße, nun Grottgera, wo sein Roman spielt. Hier, zwischen Kastanien, Ulmen und Linden, hatten die Deutschen ihre Vorortvillen mit Fachwerk, Erkerchen und Apfelbäumen im Garten. Dass die neuen Danziger Fremde waren, ist für Chwin ein Grund, warum gerade hier 1980 die Solidarność geboren wurde. »Die Arbeiterproteste schweißten die atomisierte Gesellschaft zu einer Gemeinschaft zusammen, die langsam ihre eigene Identität und Kraft fand.«
    Mit dem Erfolg der Solidarność bekam Danzig enorme Bedeutung für das Nachkriegspolen, wurde zum Stolz der Nation, wenn der Glanz heute auch beschädigt ist durch die internen Querelen der Bewegung. Wie sehr sich inzwischen der Blick auf die deutsche Geschichte Danzigs geöffnet hat, kann man im »Museum der Freien Stadt Danzig« sehen.
    Piotr Mazurek ist Vorsitzender der »Gesellschaft der Freunde der Stadt Danzig«, die 1970 gegründet wurde, um die polnischen Wurzeln hervorzukehren und so zu beweisen, dass Danzig ursprünglich gar nicht deutsch sei. Heute sagt Mazurek, ein Historiker: »Das Deutschtum gehört zum Erbe dieser Stadt, sie hat sowohl Polen wie Deutschen viel zu verdanken. « In der preußischen Zeit etwa sei viel modernisiert worden, vor allem das Verkehrswesen. So zeigt das Museum unterschiedslos seine sorgsam zusammengetragenen Exponate,
seien es »polnische« wie historische Dienstausweise der polnischen Post, achtzig Jahre alte Zeugnisse – vom polnischen Gymnasium – oder »deutsche« wie die Holzkleiderbügel der »Begeda-Bekleidungs-Gesellschaft für Danziger Beamte« oder Firmenschilder: »Artur Penkert, Eisenwarenhandlung«.
    Budzimira Wojtalewicz, die mutige polnische Danzigerin, deren Vater im KZ starb, hat sogar einen Deutschen geheiratet. Ihr Widerstandsgeist brachte sie auch in die verbotene Solidarność-Bewegung, sie half bei Kontakten zum Westen. Doch die Geheimpolizei saß ihr so im Nacken, dass sie schließlich 1986 nach Deutschland ging. Sie hat die Brücke geschlagen. In Atzelgift im Westerwald, wo sie jetzt zu Hause ist, hat sie Schul- und Vereinspartnerschaften mit Danzig angestoßen, in Schulklassen erzählt sie unermüdlich ihre Geschichte. »Es ist ein anderes Deutschland heute«, sagt sie. Vor der Hochzeit stellte sie ihrem Mann nur eine Bedingung: Mehrere Monate im Jahr verbringt sie in Danzig.
    Helga Joachimiak, die polonisierte deutsche Danzigerin, hatte zwei polnische Ehemänner. Jetzt ist die Witwe fast jeden Tag im Haus der deutschen Minderheit. »Wir sind froh, dass wir nun hier unser kleines Deutschland haben.« Nebenan wartet schon eine fröhliche Kaffeerunde älterer Damen auf sie. Bitterkeit, sagt sie, spüre sie längst keine mehr, sie habe wunderbare Nachbarn. Und wenn sie ihre Enkelin in Gladbeck besucht, findet sie alles sehr, sehr schön in Deutschland. »Doch nach spätestens zwei Wochen«, bekennt sie, »hab ich Heimweh nach Danzig.«

»Am Leben bleibt niemand«
    Das Besatzungsregime der Deutschen in Polen zählt zu den schrecklichsten Kapiteln des Zweiten Weltkriegs. Das Land verlor durch den Nazi-Terror fast 18 Prozent seiner Bevölkerung.

    Von Michael Sontheimer

    An seinem Kriegsziel ließ Adolf Hitler vor dem Angriff auf Polen keinen Zweifel. Es handle sich »nicht um das Erreichen einer bestimmten Linie oder neuen Grenze«, sagte er zu Generälen und Kommandeuren der Wehrmacht, die er am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg empfing. Es gehe um »die Vernichtung des Feindes«. Am 1. September 1939 fielen deutsche Soldaten im Nachbarland ein. Die deutlich überlegene Wehrmacht marschierte so schnell voran, dass die polnische Regierung 16 Tage später nach Rumänien flüchten musste. Am 27. September gaben die Verteidiger Warschaus auf, die letzten polnischen Truppen kapitulierten

Weitere Kostenlose Bücher