Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
schrieb bereits im Oktober 1938: »Wenn wir nicht mit den Engeln singen können, dann werden wir mit den Wölfen heulen.« Zwar kam es am 28. Oktober 1939, dem erstmals unter deutscher Besatzung gefeierten tschechoslowakischen Unabhängigkeitstag,
zu Massendemonstrationen und Streiks, bei denen zwei Menschen starben sowie neun studentische »Rädelsführer« erschossen und 1200 Studenten ins KZ Oranienburg deportiert wurden; zudem wurden die tschechischen Hochschulen geschlossen. Ansonsten aber hatten Tschechen, die keinen Widerstand leisteten, unter den Besatzern vergleichsweise wenig zu leiden. Denn Hitler brauchte die hochentwickelte tschechische Industrie, die außerhalb der Reichweite alliierter Bomber lag, für seine Kriegsmaschinerie. Deshalb erhielten die Tschechen auch Lebensmittelkarten.
Am 27. September 1941 war es indes mit der milden Protektoratspolitik vorbei. Neurath wurde beurlaubt, an seine Stelle trat, formal als Vize, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. Am 2. Oktober erläuterte er hochrangigen Funktionären des Besat-zungsregimes seine Zukunftsvision, »dass dieser Raum einmal deutsch werden muss und dass der Tscheche in diesem Raum letzten Endes nichts verloren hat«. Man brauche allerdings »Ruhe im Raum, damit der tschechische Arbeiter für die deutsche Kriegsleistung hier vollgültig seine Arbeitskraft einsetzt und damit wir bei dem riesigen Vorhandensein von Rüstungsindustrien hier den Nachschub und die rüstungsmäßige Weiterentwicklung nicht aufhalten«. Dazu gehöre, »dass man den tschechischen Arbeitern natürlich das an Fressen geben muss – wenn ich es also deutlich sagen darf –, dass er seine Arbeit erfüllen kann«. Man müsse aber »den Tschechen zeigen, wer Herr im Hause ist«.
Reinhard Heydrich, stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren (undatierte Aufnahme)
Den Ministerpräsidenten Alois Eliáš ließ Heydrich wegen angeblicher Geheimkontakte zum tschechischen Widerstand zum Tode verurteilen, ebenso 404 Oppositionelle. Zugleich verbesserte er die medizinische Betreuung und soziale Sicherung der Arbeiter und schuf Stipendien, mit denen tschechische Studenten an Hochschulen des Reiches studieren konnten. Im Ausland entstand dadurch der Eindruck, als hätten sich die Tschechen unter der deutschen Herrschaft ganz komfortabel eingerichtet. Das widersprach den Interessen der von Edvard Beneš in London geführten Exilregierung. Deshalb schickte sie Fallschirmagenten nach Prag, die am 27. Mai 1942 einen Anschlag auf Heydrich verübten; er erlag sieben Tage später seinen Verletzungen. Grausam, wie es Beneš wohl erwartet hatte, übten die Deutschen Rache: Sie brannten das Dorf Lidice nieder, erschossen 173 männliche Einwohner und verschleppten über 300 Frauen und Kinder ins KZ.
Lidice wurde zum Fanal. Die Weltmeinung über die scheinbar so schicksalsergebenen Tschechen schlug um. London und Paris annullierten ihre Unterschriften unter das Münchner Abkommen. Beneš war seinem Ziel, Zustimmung für die Vertreibung der Sudetendeutschen zu gewinnen, ein Stück näher gekommen.
»Taifun des Völkerdramas«
Binnen weniger Wochen eroberte die Rote Armee Anfang 1945 den Großteil Ostdeutschlands. Die Nazis nutzten sowjetische Übergriffe gegen Zivilisten, um die Deutschen zum militärisch sinnlosen Widerstand zu zwingen.
Von Uwe Klußmann
Der Kanonendonner, der in den frühen Morgenstunden des 12. Januar 1945 etwa 40 Kilometer westlich von Baranów nahe der Weichsel in Mittelpolen die Erde beben lässt, läutet das Ende des deutschen Ostens ein. Beim massiven Artilleriebeschuss der vorderen deutschen Linien kommt vielerorts ein Viertel der betroffenen deutschen Soldaten um.
Dem Granatenhagel folgen Tausende sowjetische Panzer und Selbstfahrlafetten, die nach Westen vorstoßen. Auf breiter Front durchbrechen die Sowjets die deutschen Linien vom Süden Polens über Warschau bis zur Grenze Ostpreußens. Unmittelbar zuvor haben Moskaus Militärs die feindlichen Stellungen sorgfältig aufgeklärt, aus der Luft und zu Lande mit Hilfe polnischer Späher. Gezielt zerschlagen die Angreifer die Nachrichten- und Verbindungsstäbe der Wehrmacht.
Stalins Truppen stürmen vorwärts und kesseln Einheiten der Wehrmacht ein. Von den Deutschen lernen heißt, sie besiegen lernen, lautet die unausgesprochene Devise. Denn auf ähnliche Weise ist die Wehrmacht drei, vier Jahre zuvor mit ihrer Blitzkriegstaktik tief nach Russland eingedrungen. Die Panzertruppen der Roten Armee
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