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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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stoßen täglich 40 bis
50 Kilometer, vereinzelt sogar 60 bis 70 Kilometer nach Westen vor. Am 17. Januar erobern die Sowjets Tschenstochau, zwei Tage später überschreiten Angriffsspitzen einer Garde-Panzerarmee die Reichsgrenzen. Am 25. Januar stehen die Sowjets vor Posen, am 27. Januar vor Königsberg.
    Am folgenden Tag erscheint in der Wochenzeitung »Das Reich« ein Leitartikel von Propagandaminister Joseph Goebbels, der den Ernst der Lage eingesteht: »Die Entwicklung im Osten hat einen dramatischen Charakter angenommen. Die Sowjets sind mit Massen von Menschen und Material angetreten, die alle bisherigen Vorstellungen überschreiten.« An Schwerpunkten, wo sie die deutsche Front durchbrechen, sind die Sowjets der Wehrmacht an Fußtruppen, Artillerie und Panzertruppen um das Neun- bis Zehnfache überlegen. Stalins Armee setzt vor der deutschen Ostgrenze 2,2 Millionen Soldaten, 6460 Panzer und 32 143 Geschütze ein, um Hitlers Reich den Todesstoß zu versetzen. Dennoch tut der »Führer« so, als glaubte er, es werde »im Großen und Ganzen gelingen, die jetzt eingenommene Linie zu halten«, wie Goebbels am 26. Januar in seinem Tagebuch notiert.

    Doch die Stoßkraft der Sowjets wirft alle deutschen Verteidigungspläne über den Haufen. In den letzten Januar-Tagen stößt die Rote Armee bei Küstrin an die Oder vor. Von dort, wo die Wehrmacht die »Nibelungenstellung« bezieht, sind es nur noch 70 Kilometer bis Berlin. Das oberschlesische Industrierevier fällt den Sowjets bis Anfang Februar weitgehend unversehrt in die Hände – wie von Stalin gewünscht. Der »Woschd«, Führer, wie auch er sich nennen lässt, hatte bereits im November 1944 bei einer Besprechung in Moskau auf die Landkarte getippt und Schlesien als »Soloto«, Gold, bezeichnet. Da bleibt Hitler nur noch der Appell an den Herrgott. In seiner letzten Rundfunkansprache appelliert der »Führer« am 30. Januar an die Deutschen, sie sollten nun »vor den Allmächtigen treten und ihn um seine Gnade und seinen Segen bitten«. Die Deutschen hören aus den Radios die Stimme eines »Führers«, die erschöpft und verzweifelt klingt. Doch auch sein Gegenspieler in Moskau ist vom jahrelangen Kriegführen angeschlagen.
    Marschall Georgij Schukow, der seine Truppen bis an die Oder geführt hat, trifft Anfang März einen Oberbefehlshaber, der in Gesten und Redeweise »eine große Müdigkeit« zeigt und » gründlich erschöpft« wirkt. Dem Marschall erläutert Stalin offenherzig seine Pläne: Die polnische Westgrenze werde künftig an Oder und Neiße verlaufen, und
der polnische Staat werde sowjetisiert. Denn ein »bürgerliches Polen«, das an die Sowjetunion grenze, könne er »nicht zulassen«. Damit ist klar, dass die deutsche Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße verschwinden soll. Und dass alles recht ist, was dazu beiträgt: martialische Befehle wie von Schukow («Wir werden uns grausam rächen für alles«) und die skrupellose Agitation eines Ilja Ehrenburg. Der Schriftsteller aus jüdischer Familie, der in jungen Jahren in Paris als Bohemien Gedichte über die Jungfrau Maria verfasst hatte, ist am Hofe des Seminarschülers Stalin zum Hassprediger mutiert. In zahllosen Zeitungsaufsätzen schürt er die Verachtung der Sowjetsoldaten für Deutschland als »Land der Mörder«. Im Januar 1945 fordert der Pamphletist, »mit den Deutschen ein für alle Mal abzurechnen«.
    Zwar gibt es für die im Nachkriegsdeutschland immer wieder publizierte Behauptung, Ehrenburg habe dazu aufgerufen, mit Gewalt den »Rassenhochmut der deutschen Frauen« zu brechen, keinen Beleg. Doch schürt Ehrenburg 1945 Hass auch gegen weibliche Deutsche: »Wir verachten sie, weil sie die Mütter, Frauen und Schwestern von Henkern sind.« Und im April 1945 schreibt er in der Armeezeitung »Roter Stern«, in Deutschland könne man »wirkliche Hexen« sehen. Die Deutschen nennt er »Menschenfresser«, die keine »Gutscheine auf Menschlichkeit« zu erwarten hätten. »Es gibt kein Deutschland: Es gibt nur eine gewaltige Bande, die auseinanderrennt«, so Ehrenburg. Für diese Tirade wird er am 14. April 1945 überraschend im Parteiorgan »Prawda« gerügt. Unter der Überschrift »Genosse Ehrenburg vereinfacht« moniert ein leitender Parteifunktionär, Ehrenburg sehe nicht, dass es »verschiedene Deutsche« gebe. Das Zentralorgan zitiert aus einem Befehl Stalins vom Februar 1942, es sei »lächerlich, die Hitler-Clique mit dem deutschen Volk gleichzusetzen«. Denn,

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