Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
so Stalin: »Die Erfahrung der
Geschichte zeigt, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.«
Wohl nicht zufällig lässt Stalin die Kritik an Ehrenburg am 14. April veröffentlichen. Denn zwei Tage danach beginnt die Rote Armee an der Oder die Operation zur Eroberung Berlins. Von jetzt an werden die Sowjets Gebiete besetzen, in denen sie die Deutschen beherrschen und wenn möglich für sich gewinnen wollen, auf dem Territorium der späteren DDR.
Die Hassbotschaften Ehrenburgs und anderer Sowjetpropagandisten wirken fatal, als die durch fast vier Jahre Krieg verrohte sowjetische Armee deutschen Boden betritt. In Ostpreußen, laut Stalin »die Brutstätte des deutschen Imperialismus«, plündern Soldaten Wohnungen, vergewaltigen massenhaft Frauen und Mädchen. Sie erschlagen ihre Opfer und töten Ehemänner und Väter, die sich zu wehren versuchen. Eine zügellose Soldateska zündet Dörfer an.
»Ringsum Feuer, Raub, Vergewaltigung«, erinnert sich Lew Kopelew, der als Major der Roten Armee mit hilflosem Entsetzen beobachtet, was die Soldaten treiben. Weil er deutsche Zivilisten mit einem Lkw in Sicherheit bringt, wird der promovierte Germanist wegen »Propagierung des bürgerlichen Humanismus« für zehn Jahre in ein Straflager gesteckt. Der 26-jährige Artillerieoffizier Alexander Solschenizyn erlebt in Ostpreußen, wie Sowjetsoldaten, getrieben von Todesangst, Rachedurst und erstickter Menschlichkeit, durch die Gegend hasten. Fünf Jahre nach dem Krieg wird er, in Lagerhaft, die Atmosphäre jener Wochen in der brennenden Beuteprovinz in dem Poem »Ostpreußische Nächte« beschreiben.
Der Hass der Sowjetsoldaten auf die Deutschen wächst noch durch die gewaltigen Verluste, die ihnen Wehrmacht und »Volkssturm« zufügen. Bei der Eroberung Ostpreußens verlieren die Sowjets die Hälfte der eingesetzten Soldaten. Sie zählen 458 314 Tote und Verwundete.
Die meisten Rotarmisten sind Männer aus armen Bauernfamilien, deren Jugend Hunger und Terror der Zwangskollektivierung überschattet hatten. Sie waren nie im Ausland gewesen. Sie erleben in deutschen Städten und Dörfern einen Kulturschock, der ihre Wut oft noch anheizt. Denn sie glauben, der Wohlstand, den sie sehen, sei zusammengeraubt. Staunend stehen die Soldaten vor schweren Teppichen und Daunenbetten, sehen erstmals Kühlschränke und große Radioapparate. »Wir sind alle satt, Fleisch ist da und Speck«, schreibt ein Rotarmist am 31. Januar aus Ostpreußen nach Hause, wo das Volk hungert. Dass die militärische Führung ihre Truppen zum Plündern ermuntert, zeigen Befehle, die den Militärs erlauben, Pakete in die Heimat zu schicken, Soldaten bis zu 5 Kilogramm, Offizieren 10 und Generälen 16 Kilogramm.
Vormarsch sowjetischer Panzertruppen in Danzig, März 1945
Die traditionelle Faszination der Russen vom Westen und von Deutschland gerät beim Vormarsch der Roten Armee zu einer Farce. Soldaten setzen sich Filzhüte und Zylinder auf und fahren volltrunken mit Kutschen oder auf gestohlenen Fahrrädern umher. Sie ziehen sich deutsche Uniformen an und werden deswegen schon mal von Kameraden mit dem Feind verwechselt und erschossen. Sie schicken deutsche Postkarten nach Hause, bisweilen auch mit Porträts und Parolen von Hitler, bis die Armee dies verbietet.
Befehle etwa des Marschalls Konstantin Rokossowski, »schändliche Erscheinungen« von Übergriffen mit »glühendem Eisen« zu beseitigen, bewirken nur wenig. Auf die chaotischen Gewalttaten und Brandschatzungen folgen systematische ethnische Säuberungen der eroberten deutschen Ostprovinzen. Dabei spielt das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, der Geheimdienst NKWD, die maßgebliche Rolle. NKWD-Chef Lawrentij Berija erlässt am 11. Januar 1945 einen Befehl («Streng geheim«), gezielt Mitglieder von NS-Organisationen, Polizisten, Richter und Journalisten festzunehmen. Berija fürchtet »Wühlarbeit« von Nazis in den besetzten Gebieten. In einem weiteren streng geheimen Befehl vom 6. Februar weist Berija an, in den besetzten deutschen Gebieten »alle zur körperlichen
Arbeit und zum Waffentragen fähigen Männer von 17 bis 50 Jahren« zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion zu deportieren. Eine NKWD-Order vom 22. Februar sieht vor, die verschleppten Deutschen in sowjetischen Lagern »agenturmäßig-nachrichtendienstlich zu bearbeiten«, also mit Spitzeln zu durchsetzen. Doch das erleben viele der verschleppten Zivilisten gar nicht mehr. Tausende von
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