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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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ihnen sterben auf dem Weg in die Sammellager an Hungertyphus und anderen Krankheiten. Und im Verlauf des Arbeitseinsatzes in der Sowjetunion kommen von 210 000 deutschen Zwangsarbeitern 41 000 um.
    Sowjetische Flugblätter auf Deutsch aber, die über den deutschen Linien abgeworfen werden, wie die »Front-Illustrierte für den deutschen Soldaten«, malen ein idyllisches Bild von den okkupierten Gebieten mit Fotos freundlicher Rotarmisten neben deutschen Großmüttern und Kindern: »In den von der Roten Armee besetzten Städten herrscht Ruhe und Ordnung.« Der Zivilbevölkerung, so heißt es, werde »ein ruhiges, normales Leben gesichert«. Mehr noch: Die Deutschen brächten »mit jedem Tag« den »russischen Soldaten und Offizieren größeres Zutrauen entgegen«. Weil diese Parodie potemkinscher Inszenierungen kaum einen Deutschen überzeugt, bleibt auch das von den Sowjets kontrollierte »Nationalkomitee Freies Deutschland« (NKFD) erfolglos, das mit Millionen Flugblättern («Organisierte Kapitulation – Eure Rettung«) und Lautsprechereinsätzen die Deutschen auffordert, den Widerstand einzustellen. Weinend, erbittert und hilflos erlebt der »Frontbeauftragte« des NKFD in Ostpreußen, Leutnant Heinrich Graf von Einsiedel, seine 60 »Fronthelfer«. Die NKFD-Männer, die sich in der sowjetischen Gefangenschaft von Hitler abgewandt haben, wollen ihre Landsleute in der Wehrmacht vor der Vernichtung retten. Doch obwohl die militärische Lage aussichtslos
geworden ist, vertrauen ihnen nur wenige. NKFD-Mitglieder werden machtlose Zeugen einer »Vernichtungsorgie, wie sie noch kein zivilisierter Landstrich über sich hat ergehen lassen«, bilanziert Einsiedel bitter.
    In dieser Lage folgen die Deutschen Goebbels, der Anfang März in einem Leitartikel in »Das Reich« fordert, im »Taifun dieses gigantischen Völkerdramas« dürfe man »nicht über Bord springen«, sondern müsse die »Ohren steif halten«. In der zur »Festung« erklärten Stadt Königsberg etwa verschanzen sich bewaffnete Greise und Kinder im »Volkssturm« in den Ruinen ihrer Heimatstadt. Sie werden angefeuert von Fanatikern wie dem NSDAP-Kreisleiter Ernst Wagner: »Kämpft wie Indianer und schlagt euch wie Löwen.« Wer am Sinn des Einsatzes zweifelt, dem droht der Kreisleiter im Gangsterjargon: »Wer nicht kämpfen will und abhaut, wird umgelegt.« An Straßenbäumen im Osten hängen die starr gefrorenen Leichen hingerichteter Soldaten, die dem Inferno entfliehen wollten. Die Toten tragen Schilder um den Hals mit Aufschriften wie »Ich habe mit den Bolschewiken paktiert«.
    Viele Deutsche erfasst für Momente noch eine Wundergläubigkeit, die der Euphorie eines todkranken Tuberkulösen ähnelt. Um diese Stimmung zu erzeugen, tritt Goebbels am 8. März 1945 zum letzten Mal öffentlich auf, als die Wehrmacht die schlesische Stadt Lauban zurückerobert hat. Auf dem Marktplatz von Lauban hält er zwischen Häuserruinen und zerschossenen Wracks sowjetischer Panzer vor Soldaten eine Durchhalterede.
    Vor laufenden Kameras der »Deutschen Wochenschau« klopft er dem 16-jährigen Hitlerjungen Wilhelm Hübner auf die Schulter, der das Eiserne Kreuz erhielt, weil er als Melder eingesetzt war. Danach hinkt er im benachbarten Görlitz in der Stadthalle ans Rednerpult. Bleiche Soldaten, Rüstungsarbeiter,
Frauen und Hitlerjungen klatschen begeistert Beifall, als Hitlers treuester Kampfgefährte ankündigt, die Wehrmacht werde »in den nächsten Wochen und Monaten zu Großoffensiven antreten«. Den deutschen Soldaten, ruft Goebbels, werde ein »Schrei der Rache aus ihren Kehlen emporsteigen, vor dem der Feind erblassen wird«.
    Zurückgekehrt ins zerbombte Berlin, versucht der Propagandaminister wenige Tage später zu ergründen, worin das Erfolgsrezept des Feindes im Osten besteht. Er lässt sich vom Generalstab ein Buch mit Lebensbeschreibungen und Fotos sowjetischer Generäle und Marschälle vorlegen. Die seien »im Durchschnitt außerordentlich jung«, so Goebbels beeindruckt, und hätten »eine reiche politisch-revolutionäre Tätigkeit hinter sich«. Die Sowjetmilitärs seien nicht nur »überzeugte Bolschewisten«, sondern auch »außerordentlich tatkräftige Menschen«, »aus gutem Volksholz geschnitzt«, nämlich »Söhne von Arbeitern, Schustern, Kleinbauern«. Fazit: Die »militärische Führerschaft der Sowjetunion« sei »aus einer besseren Klasse zusammengesetzt als unsere eigene«. Womöglich erinnert er sich für einen Moment daran, dass es selbst

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