Die Dichterin von Aquitanien
sogleich ins Ohr. Marie schüttelte unwillig den Kopf.
»Später, wenn die Gesellschaft sich aufgelöst hat«, entschied sie. Emmas Mundwinkel verzogen sich enttäuscht, aber sie versuchte nicht, das Pergament an sich zu reißen. Marie ahnte den Grund für diese Zurückhaltung. Ihrer jungen Tante fiel das Lesen nicht sehr leicht.
Gleich nach dem Abendmahl tauchte Emma zusammen mit Isabelle de Vermandois in Maries Gemach auf, ein seltener Besuch. Hawisa besorgte rasch ein paar Becher und einen Krug Wein.
»Nun lies endlich vor, Marie«, drängte Emma, sobald sie sich gesetzt hatte. Isabelles goldbraune Augen funkelten aufgeregt in ihrem hübschen Kätzchengesicht, während sie sich hinter Emma stellte. Gehorsam entrollte Marie das Pergament, um die geheime Botschaft zu entziffern. Obwohl sie es nicht zugeben wollte, brannte sie ebenfalls vor Neugier.
Es war ein Liebesgedicht, gewidmet der unvergleichlichen Schönheit Emma d’Anjous. Ein Name stand darunter. Régnier de Rancon. Dieser Ritter des Thronfolgers Henry war Marie bereits einige Male bei den Turnieren aufgefallen. Er hatte sich als geschickter Schwertkämpfer erwiesen, der seine Erfolge nach jedem Turnier von einer Gruppe junger Gefolgsmänner so grölend feiern ließ, dass es in den Ohren
schmerzte. Das Gedicht schien ihr nur eine Nachahmung der Lieder mittelmäßiger Troubadoure, doch fand Marie es sehr zart und gefällig formuliert. Sie fragte sich, ob der polternde Régnier diese Zeilen tatsächlich selbst verfasst hatte, doch Isabelles Jauchzen riss sie aus diesen Gedanken.
»Ich habe es gewusst!«, rief das niedliche Kätzchen und stupste Emma an. »Er starrt doch stets in deine Richtung. Vor dem Turnier und auch danach!«
Emma lächelte verhalten.
»Lies es mir noch mal vor, diesmal bitte langsamer«, sagte sie zu Marie, die ihr sogleich den Wunsch erfüllte.
»Wunderschön, findest du nicht? Er will sich mit dir treffen. Und bringt auch ein paar Freunde mit. Da komme ich auch auf meine Kosten«, jubelte Isabelle.
Tatsächlich wurde am Ende des Gedichts ein Treffen am Hintereingang des Palastes vorgeschlagen. Von Rittern, die sehnsüchtig auf das Strahlen höfischer Damen warteten, um sich im Dunkel der nächtlichen Stadt nicht zu verirren. Marie ließ das Pergament sinken. So gelungen das Gedicht auch sein mochte, dieser letzte Satz schien ihr abgeschmackt.
»Heute Abend, nicht wahr? Sie meinen heute?«, bohrte Isabelle nach. Marie nickte. Sie wollte nicht wissen, wie es um das Eheleben von Aliénors Nichte bestellt sein musste, wenn diese hübsche, lebenslustige Frau derart nach der Aufmerksamkeit unbekannter Ritter dürstete.
»Completorium. Nach Sonnenuntergang«, las sie nochmals die entscheidende Zeile.
»Aber das ist doch schon bald! Wir trinken noch einen Becher Wein, dann gehen wir los. Ich regele alles mit der Wache, damit wir unauffällig hinauskommen«, rief Isabelle mit strahlendem Gesicht. Emma schien eher zu grübeln.
»Vielleicht ist es kein geschicktes Vorgehen, gleich der ersten Einladung zu folgen, obwohl Régnier mir gefällt«,
warf sie ein. »Ich sollte ihn ein wenig zappeln lassen, nicht gleich springen, sobald er nach mir ruft. Ich bin nicht sein Hund.«
»Ach was, dazu ist die Jugend zu kurz. Ich möchte keine Zeit verschwenden. Bald wird mich mein Ehemann nach Flandern holen und dann ist der Spaß vorbei«, widersprach Isabelle, während sie in einem Zug den Weinbecher leerte.
»Willst du uns begleiten?«, wandte sie sich kurz an Marie, doch Emma antwortete, bevor Marie selbst eine Gelegenheit fand.
»Das ist nichts für sie. Meine kluge Nichte kann sich nur für Bücher begeistern.«
»Danke, Emma«, murmelte Marie so leise, dass Isabelle es nicht hören konnte. Die Worte hatten ihr einen Stich versetzt. Kurz erwog sie, sich den beiden trotz aller Bedenken anzuschließen, nur um ihre junge Tante vom Gegenteil zu überzeugen, doch Isabelle zog Emma bereits hinter sich her.
Komm schon!«, drängte sie. »Ich leihe dir meine Perlen. Die glänzen selbst im Mondlicht. Du wirst umwerfend aussehen.«
Die Tür fiel zu.
Marie starrte weiter auf das Pergament, las nochmals die letzten Zeilen, die sie allen verschwiegen hatte. Sie waren in einer anderen Schrift geschrieben und nur ihr allein gewidmet. Eine Weile strich sie über die Tinte, verwischte sie mit dem Schweiß auf ihren Fingern. Dann warf sie das Liebesgedicht ins Feuer.
Unruhig wälzte sie sich auf ihrem Bett. Das Mondlicht drang silbern durch
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