Die eisblaue Spur
erinnerte sich
Dóra an den Rat, den sie ihren Mandanten unter solchen
Umständen gab: immer nur auf das antworten, was gefragt wurde.
Darüber hinaus sagte sie nichts und starrte nur auf die
Tischplatte. Dort lagen einige der Gegenstände aus dem
Bohrwagen, die Matthias sofort der Polizei übergeben hatte.
Dóra fragte den Polizisten, ob er sich vorstellen
könne, dass sie etwas mit dem Fall zu tun hätten. Der
Mann zuckte nur mit den Schultern und sagte, es handele sich
offenbar um alte Gebrauchsgegenstände, die
höchstwahrscheinlich nichts mit dem Fall zu tun hätten.
Er zeigte auf den durchlöcherten Knochen mit dem Lederband und
erklärte, das sei eine alte Schneebrille, wie sie die
Jäger früher benutzt hätten, um ihre Augen vor der
Helligkeit zu schützen. Heutzutage würde niemand mehr so
etwas benutzen. Als das Verhör vorbei war, atmete Dóra
erleichtert auf und machte es sich im Konferenzraum bequem. Sie war
weder darüber befragt worden, was sie während des Wartens
auf die Polizei gemacht hatten, noch, wie oft sie den Kühlraum
betreten hatte. Die Fragen hatten sich hauptsächlich darum
gedreht, warum sie im Camp waren, was sie herausgefunden hatten und
warum sie erst am Morgen die Polizei kontaktiert hatten.
Dóra hatte erklärt,
die Telefonverbindung habe nicht funktioniert und die
grönländische Polizei sei bereits vor ihrer Abreise
über den Stand der Dinge informiert worden, habe es aber nicht
für nötig befunden, ins Camp zu fahren. Daraufhin sagte
der Mann, sie hätten Wichtigeres zu tun gehabt, als nach
Vermissten in den Bergen zu suchen, solche Vorfälle fielen
üblicherweise nicht in ihren Bereich und würden nur
vermerkt. Dóras Gruppe hätte jedoch Kontakt aufnehmen
müssen, als sie menschliche Knochen in den Büros fanden.
Ihnen hätte klar sein müssen, dass diese Sache wichtiger
war als ein paar verschollene Isländer. Dóra
protestierte und sagte, sie hätten keine Eile mit den Knochen
gehabt, schließlich hätte jeder sehen können, dass
sie uralt waren. Daraufhin hatte der Grönländer
Dóra mitleidig angeschaut und gesagt, die Knochen seien
alles andere als uralt. Sie müssten zwar noch von Experten
genauer unter die Lupe genommen werden, aber der Verstorbene sei
eindeutig ein Zeitgenosse gewesen, er habe zwei Kronen im
Unterkiefer gehabt, woraufhin Dóra nur ein »Oh
...« über die Lippen kam. Finnbogi war offenbar doch
nicht so schlau, wie er die ganze Zeit vorgegeben hatte – die
Zahnkronen hatte er jedenfalls übersehen.
Dóra fiel ein, dass sich
Finnbogi die ganze Zeit mehr auf den Schädel als auf den
Kiefer konzentriert hatte. Die Bestimmung des Geschlechts war ihm
wichtiger gewesen als die Zähne. Und wenn die Polizei recht
hatte, bestand immer noch die Möglichkeit, dass es sich um
Oddný Hildurs Knochen handelte. Vielleicht hatte sich der
Arzt beim Alter der Knochen wirklich geirrt. Er hatte sein Fazit
darauf begründet, dass sie sauber waren, wobei die Leiche auch
aufgrund der äußeren Bedingungen schneller verwest sein
konnte als üblich. Aber Oddný Hildur war am Anfang des
Winters verschwunden, und die Temperaturen waren seitdem kaum
über den Gefrierpunkt gestiegen. Vielleicht hatten Tiere die
Knochen abgenagt, aber dann hätte sich der Kiefer vermutlich
nicht mehr am Schädel befunden. Eins war jedenfalls klar: Wenn
es sich wirklich um Oddný Hildurs Knochen handelte, waren
die Mitarbeiter von Bergtækni ein Haufen Perverser.
Dóra hatte Friðrikka nicht gefragt, ob ihre Freundin
zwei Zahnkronen gehabt hatte, aus Angst, die Geologin würde
zusammenbrechen. Dóra konnte sich kaum vorstellen, dass sie
das Verhör überstehen würde. Dasselbe galt für
Eyjólfur, der durch den Konferenzraum stromerte und
ununterbrochen murmelte, er wisse nichts und hätte nie
mitfahren sollen. Zu allem Überfluss flackerte die
Neonröhre. Nichts von all dem brachte Bella aus dem
Gleichgewicht. Die schien sich sogar darauf zu freuen, endlich mal
verhört zu werden. Dóra war froh, dass sie den anderen
erzählt hatten, sie hätten im Wohntrakt nur Wasser
geholt, denn der Sekretärin wäre es durchaus zuzutrauen,
ihre Vorgesetzte in Schwierigkeiten zu bringen.
»Wie spät ist
es?« Matthias war von Dóras Rumoren aufgewacht.
»Ich sterbe vor Hunger.«
Dóra setzte sich auf die
Bettkante und streichelte seinen Bauch. »Viel zu spät.
Wir haben das Essen verpasst.«
Matthias öffnete ein Auge.
»Willst du mich verarschen?« Dóra
schüttelte den Kopf, woraufhin Matthias das Auge
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