Die Enden der Parabel
verfluchen. Weißmanns Grausamkeit war so erfinderisch wie Pöklers Ingenieurstalent, seine Gabe des Dädalus, die es ihm leichtmachte, so viel Labyrinth zwischen sich und die Unbequemlichkeiten des Sichkümmerns zu legen, wie er brauchte, sie hatten ihm Bequemlichkeit verkauft, soviel davon und alles auf Kredit, und präsentierten jetzt die Rechnung. In dem Versuch, ein wenig spät, sich aufzuschließen für den Schmerz, den er hätte empfinden sollen, fragte er sie jetzt aus. Kannte sie den Namen ihres Lagers? Ja,
Ilse bestätigte - oder es war ihr so befohlen worden -, daß es Dora hieß. Am Abend vor ihrer Abreise hatte sie gesehen, wie ein Mensch gehenkt wurde. Die Hinrichtungen fanden immer abends statt. Ob er etwas davon hören wollte? Ob er etwas davon hören wollte ...
Sie war sehr hungrig. Die ersten paar Tage verbrachten sie damit, von allem zu essen, was es in Zwölfkinder zu essen gab. Es war weniger als im Vorjahr, und es war viel teurer. Doch die Enklave der Unschuld genoß noch immer hohe Prioritäten, und so gab es zumindest etwas.
Nicht viele Kinder aber dieses Jahr. Der Ingenieur und das Mädchen hatten den Ort praktisch für sich. Das Rad und die meisten anderen Karussells standen still. Benzinknappheit, erklärte ihnen ein Kinderpolizist. Maschinen der Luftwaffe röhrten über ihre Köpfe. Fast in jeder Nacht heulten die Sirenen, sie sahen, wie in Lübeck und in Wismar die Suchscheinwerfer angingen, und manchmal hörten sie die Bomben. Was hatte Pökler in dieser Traumwelt, dieser Lüge verloren? Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Land zwischen den Invasoren aus Ost und West aufgerieben war. In Nordhausen hätte die Hysterie epische Ausmaße angenommen: die Auslieferung der ersten Raketen an die Front stand bevor, die Einlösung von Ingenieursversprechen, die so weit zurücklagen wie der Frieden. Warum hatten sie Pökler gerade in diesem kritischen Augenblick gehen lassen? Wer sonst bekam um diese Zeit noch Urlaub? Und was hatte "Ilse" hier zu suchen, war sie inzwischen nicht zu alt für Märchen? Mit ihren neuen Brüsten, so sichtbar jetzt unter dem Kleid, ihrem fast völlig leeren Blick, der ohne wirkliches Interesse über zufällige Jungen schweifte, die schon für den Volkssturm bestimmt waren, ältere Jungen, die sich auch für sie nicht mehr interessierten. Sie träumten von ihren Befehlen, von kolossalen Explosionen und vom Tod - wenn sie Ilse überhaupt wahrnahmen, dann mit einem Seitenblick, verstohlen ... ihr Vater wird sie zähmen ... ihre Zähne werden beißen auf den Stab ... eines Tages hab ich eine ganze Herde von ihnen für mich allein ... aber erst muß ich meinen Hauptmann finden .. .irgendwo draußen, im Krieg ... erst müssen sie mich befreien aus dieser kleinen Welt...
Wer aber war's, der gerade in diesem Augenblick vorbeiging-wer war der schlanke Knabe, der wie ein Flimmern ihren Weg kreuzte, so blond, so weiß, daß er fast unsichtbar erschien im heißen Glast, der sich über Zwölfkinder gelegt hatte? Hat sie ihn gesehen, und hat sie ihn erkannt als ihren zweiten Schatten? Sie war empfangen worden, weil ihr Vater einmal einen Film mit dem Titel Alpdrücken gesehen und einen Ständer gekriegt hatte. In seinem geilen Glotzen war Pökler der clevere gnostische Symbolismus des Regisseurs, die Ausleuchtung mit zwei Schatten, Kain und Abel, glatt entgangen. Aber Ilse, irgendeine Ilse, hatte weiterexistiert, über ihre Kinomutter und das Ende des Films hinaus, und ebenso geschah's den Schatten der Schatten. In der Zone wird sich alles unter die alte Ordnung kehren, in Licht und Raum des Kainszeichens: nicht einer preziösen Göllerei zuliebe, sondern weil das Doppelte.Licht schon immer da war, außerhalb allen Films, auf den es dieser Quatschkopf von einem Kinofritzen nur deshalb verewigte, weil er es, zu seiner Zeit, zufällig als einziger bemerkte - wenn auch, damals wie heute, in völliger Unkenntnis dessen, was er dem Volk der Gaffer damit zeigte... So ging, in diesem Sommer, Ilse an sich selbst vorbei, zu sehr fixiert auf einen schattenlosen Mittag in ihrem Inneren, um die Begegnung zu bemerken oder ihr Bedeutung beizumessen. Diesmal sprachen sie und Pökler kaum miteinander- es waren die wortlosesten ihrer gemeinsamen Ferien. Sie ging grübelnd, mit gesenktem Kopf, ihr Haar wie eine Kapuze vor ihrem Gesicht, während ihre braunen Beine nach Abfällen traten, die die Straßenreinigung aus Personalmangel nicht aufgesammelt hatte. War es für sie ein Ausflug ins
Weitere Kostenlose Bücher