Die Enden der Parabel
von einem freundlichen Zwölfkinder, das gleichzeitig Nordhausen war, eine Elfenstadt, in der Spielzeugraketen für den Flug zum Mond fabriziert wurden, und sah Weißmanns Gesicht, das ihn vom Rand der Koje aus beobachtete. Er schien um zehn Jahre gealtert zu sein, und Pökler erkannte ihn kaum. "Wir haben nicht viel Zeit", flüsterte Weißmann. "Kommen Sie mit." Sie gingen durch die weiße, schlaflose Hektik der Tunnel, Weißmann langsam und steif, beide schweigend. In einem der Büroabteile wartete schon ein halbes Dutzend anderer Techniker, dazu ein paar Männer SS und SD. "Die Genehmigungen Ihrer Gruppenleiter sind schon eingeholt", sagte Weißmann. "Sie werden freigestellt für die Arbeit an einem Sonderprojekt, das der höchsten Geheimhaltungsstufe unterliegt. Sie werden separat untergebracht werden, separat essen und mit keinem Menschen sprechen, der nicht hier in diesem Raum anwesend ist." Alle blickten um sich, um zu sehen, wer das war. Keiner kannte den anderen. Sie blickten zurück auf Weißmann. Er wollte eine Modifikation in eine Rakete einbauen lassen, nur in eine einzige. Ihre Seriennummer war entfernt und durch fünf Nullen ersetzt worden. Pökler wußte sofort, daß es dies war, wofür ihn Weißmann aufgespart hatte: daß dies seine "besondere Bestimmung" sein würde. Es ergab für ihn keinen Sinn: Er sollte eine Verkleidung aus Kunststoff entwickeln, von einer bestimmten Größe, mit vorgegebenen Isoliereigenschaften, die in den Heckabschnitt der Rakete eingebaut werden sollte. Der Triebwerksspezialist hatte am meisten Arbeit mit dem Projekt. Er mußte Dampf- und Treibstoffleitungen neu verlegen und sich neue Plätze für einige Aggregate ausdenken. Worum es sich bei dem zusätzlich unterzubringenden Gerät auch immer handeln mochte, zu Gesicht bekam es keiner. Gerüchte wollten wissen, daß es woanders produziert wurde und wegen der Geheimniskrämerei, die es umgab, unter dem Spitznamen "Schwarzgerät" lief. Selbst das Gewicht unterlag strikter Geheimhaltung. Nach zwei Wochen war alles erledigt und die "Vorrichtung für die Isolierung" auf dem Weg zum Einsatz. Pökler meldete sich bei seinem Abteilungschef zurück, und die tägliche Routine ging weiter wie zuvor. Er sollte Weißmann nie wiedersehen.
Die erste Aprilwoche, als jeden Augenblick mit dem Eintreffen der amerikanischen Truppen zu rechnen war, verbrachten die meisten Techniker damit, ihre Sachen zu packen, die Adressen der Kollegen einzusammeln, einander Glück zuzutrinken und abschiednehmend durch die sich leerenden Abteilungen zu wandern. Die Stimmung einer Abschlußfeier lag in der Luft. Es fiel schwer, nicht "Gaudeamus igitur" zu pfeifen. Das Ende des klösterlichen Lebens war plötzlich zum Greifen nahe. Ein junger SS-Mann, einer der letzten, die noch hier waren, fand Pökler in der staubigen Kaffeekantine, drückte ihm einen Umschlag in die Hand und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Es waren das gewohnte Urlaubsformular, so überflüssig jetzt, da das Sterben der Regierung schon begonnen hatte, und eine Reisegenehmigung nach Zwölfkinder. In der Spalte, die für die Daten vorgesehen war, stand in fast unleserlicher Schrift: "Nach dem Ende der Feindseligkeiten." Auf der Rückseite, von der gleichen Hand (Weißmanns?), eine Nachricht für Pökler: Sie ist entlassen worden. Sie wird sie dort treffen. Er begriff, daß es die Bezahlung war für die Arbeit, die er an der ooooo geleistet hatte. Wie lange hatte ihn sich Weißmann vorausschauend auf Eis gelegt, nur um einen Kunststoffexperten zur Hand zu haben, als die Zeit gekommen war? Am letzten Tag verließ Pökler die Mittelwerke durch den südlichen Ausgang der Haupttunnel. Der Platz war voll von Lastwagen, alle Motoren im Leerlauf, Abschiedsstimmung in der Frühlingsluft, und die hohen Bäume auf den Bergen glänzten grün im Sonnenlicht. Der Obersturmführer war nicht auf seinem Posten, als Pökler das Dora-Gelände betrat. Er suchte nicht nach Ilse, oder nicht direkt. Er mochte gefühlt haben, daß er das Lager endlich sehen mußte. Er war nicht vorbereitet. Er wußte nichts. Kannte zwar Fakten, ja, aber wußte trotzdem von nichts, nicht mit dem Herzen, mit den Sinnen...
Die Gerüche von Scheiße und Tod, Schweiß, Krankheit, Moder, Pisse, die Atemzüge von Dora hüllten ihn ein, während er vorwärtstaumelte, auf die nackten Leichen starrend, die jetzt, da Amerika so nahe war, herausgeschleppt und vor den Krematorien gestapelt wurden, hängend die Penisse der Männer, ihre
Weitere Kostenlose Bücher