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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Zehen, zu weißen Trauben geklumpt, rund wie Perlen ... jedes Gesicht so vollendet, so unverwechselbar, die Lippen zu einem breiten Todesgrinsen verzerrt, ein stummes Publikum, ertappt bei der Pointe vom Witz ... und die Lebenden, zu zehnt auf Strohsäcke gepfercht, die schwach wimmernden, hustenden Verlierer... All seine Vakuums und Labyrinthe waren die Kehrseite von dem gewesen. Während er lebte und Formeln auf Papier schrieb, hatte sich dieses unsichtbare Königreich von ihm genährt, draußen, im Dunkeln ... all diese Jahre ... Pökler übergab sich. Er weinte ein wenig. Die Mauern lösten sich nicht auf - keine Gefängnismauer hat es je getan, nicht von Tränen, nicht angesichts dieser Entdeckung, auf jeder Pritsche, in jeder Zelle, daß hier Gesichter liegen, die er schließlich doch kennt, die ihm teuer sind, wie er sich selbst teuer ist und die er nicht zurücksinken lassen kann in dieses Schweigen... Aber was kann er jemals tun? Wie kann er sie jemals bewahren? Sein Versagen, der Spiegeltausch des Leids, überfällt ihn wie Atemlosigkeit auf einer Flucht, nimmt ihm fast jede Chance auf einfache Wut oder auf Umkehr... Wo es am dunkelsten war und am schlimmsten roch, sah Pökler eine Frau liegen, eine zufällige Frau. Er saß eine halbe Stunde neben ihr und hielt ihre knochige Hand. Sie atmete noch. Bevor er sie verließ, zog er seinen goldenen Ehering ab, steckte ihn an einen ihrer dünnen Finger und schloß ihr die Hand, damit der Ring nicht heruntergleiten konnte. Wenn sie überlebte, würde er für ein paar Mahlzeiten gut sein, für eine Decke oder eine Übernachtung unter Dach, oder für die Fahrt nach Hause ...

[3.12] "Nah genug dran, Schätzchen."

    Wieder in Berlin, als gerade ein heftiges Gewitter über der Stadt tobt. Margherita hat Slothrop zu einem wackligen Holzhaus am Ufer der Spree gebracht, im russischen Sektor. Ein ausgebrannter Königstiger bewacht den Eingang, sein Anstrich versengt, die Raupenkette zerfetzt und von den Zahnkränzen gerissen, das tote 88er-Monstrum geneigt auf den grauen Fluß, zischend und genadelt vom Regen. Innen nisten Fledermäuse in den Dachsparren, modern Reste von Matratzen, sind die Bodenbretter mit Glassplittern und Fledermausscheiße bedeckt und die Fenster zugenagelt, ausgenommen eine Öffnung für das Ofenrohr, das den eingestürzten Kamin ersetzt. Auf einem Schaukelstuhl liegt ein Mantel aus Maulwurfsfellen, eine rauchgraue Wolke. Die Farben eines längst verschollenen Künstlers sind noch in Klecksen auf dem Boden zu erkennen, Tropfenspuren von Fuchsin, Safran und Stahlblau, negative Zerrbilder von Gemälden, deren Verbleib man nicht kennt. Hinten in einer Ecke hängt in einem Rahmen, der mit weißen Vögeln und Blumen bemalt ist, ein fleckiger Spiegel, der Margherita und Slothrop sowie den Regen vor der offenen Tür reflektiert. Ein Teil der Decke, den es weggerissen hat, als der Königstiger krepierte, ist jetzt durch aufgeweichte Papp-Plakate ersetzt, die alle die gleiche Gestalt mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief ins Gesicht gezogenem Hut zeigen, darunter die Unterschrift Achtung! feind hört mit!. An einem halben Dutzend Stellen tropft das Wasser durch.
    Greta zündet eine Kerosinlampe an, die das Regenlicht mit einer Handvoll Gelb erwärmt. Slothrop bastelt ein Feuer in den Ofen, während Margherita in den Keller taucht, wo, wie sich herausstellt, ein ganzer Haufen Kartoffeln lagert. Mein Gott, es ist Monate her, daß Slothrop eine leibhaftige Kartoffel zu Gesicht bekommen hat! Und Zwiebeln gibt's in einem Sack und sogar Wein. Margherita kocht, und bald sitzen beide da und mümmeln die Kartoffeln in sich rein. Später, ohne viel Gerede oder Drumherum, ficken sie einander in den Schlaf. Doch nach ein paar Stunden wacht Slothrop wieder auf, liegt da und überlegt, wohin er denn nun soll. Tja, diesen Säure Bummer suchen, sobald der Regen aufhört, und dem Mann sein Haschisch geben. Aber was dann? Slothrop und das S-Gerät und das Jamf/Imipolex-Mysterium sind ihm schon ganz fremd geworden. Er hat wahrhaftig eine ganze Zeit lang nicht an sie gedacht. Hmm, wann zuletzt? An dem Tag, als er mit Säure in dem Cafe saß und diesen Reefer rauchte ... oh, das war doch vorgestern, oder? Regen tropft, dringt in den Boden, und Slothrop spürt, daß er den Verstand verliert. Wenn etwas Tröstliches - Religiöses, wenn man will - in der Paranoia liegt, so gibt es doch auch eine Anti-Paranoia, in der nichts mehr mit irgend etwas anderem verknüpft ist, ein

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