Die Enden der Parabel
einzige Zeitung, die viele von uns lasen.
Du kommst an - stehst plötzlich da, mitten im Herzen von Peenemünde, he, wo kann man hier 'n Faß aufmachen? mit deinem Pappdeckelkoffer mit den paar Hemden, dem Handbuch, vielleicht dem Lehrbuch der Ballistik vom Geheimrat Cranz. Du hast Ackeret, Busemann, von Karman, Moore so gut wie auswendig gelernt, du kennst ein paar von den Papieren, die auf dem Volta-Kongreß vorgelegt wurden. Aber der Schrecken weicht nicht. Hier ist es schneller als der Schall, schneller als die Worte, die sie durch einen Raum voll Sonne zu dir gesprochen hat, die Jazzband im Radio, wenn du nicht schlafen konntest, die heiseren Heils zwischen den bleichen Generatoren und von den Galerien oben, überfüllt von Bonzen... das Pfeifen auf den Klippen von La Gomera (schreckliche Abstürze, steil, Pfiffe in den Abgrund, die einer Spielzeugstadt galten, Jahrhunderte und Meilen tiefer ...), als du allein am Achtersteven saßest - die anderen auf dem weißen Deck des KdF-Dampfers, singende Wänste in Spielanzügen, bierselig und sonnenbraun beim Tanz um den Maibaum - und dem Ur-Spanisch lauschtest, gepfiffen, nicht gesprochen, von den Bergen bei Chipuda ... La Gomera war das letzte Stück Land, das Kolumbus vor Amerika berührte. Hatte er es auch gehört, in jener letzten Nacht? Hatten sie ihm eine Botschaft mitzugeben? Eine Warnung? Verstand er die Prophezeiungen der Ziegenhirten in der Dunkelheit, oben zwischen den kanarischen Stechpalmen und den Fayas, tiefgrün nach dem letzten Sonnenuntergang Europas? In der Aerodynamik arbeitet man, solange alles nur auf dem Papier steht, mit dimensionslosen Koeffizienten: Verhältnissen von dem zu jenem, wobei die Einheiten, die Zentimeter, Gramme und Sekunden über und unter dem Strich, fein säuberlich herausgekürzt werden. Erst dadurch wird es möglich, Modelle zu verwenden, sie in einen Luftstrom zu setzen, zu messen, was man messen will, und diese Resultate aus dem Windkanal in die Realität zu projizieren, ohne dabei allzu große Risiken zu laufen: die Koeffizienten sind für alle Dimensionen gut. Traditionsgemäß werden sie nach ihren Entdeckern benannt - Reynolds, Prandtl, Peclet, Nußelt, Mach-, und hier stellt sich nun die Frage: wie wär's mit 'ner Achtfaden-Zahl? Wie stehen die Chancen für so was?
Nicht gut. Die Parameter vermehren sich wie die Moskitos im Bayou, rascher, als er sie erschlagen kann. Hunger, Kompromiß, Geld, Paranoia, Erinnerung, Trost, Schuld. Schuld allerdings kriegt bei Achtfaden ein Minus, obwohl sie sich in der Zone langsam, aber sicher zu einem Schlager entwickelt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Kinder reicher Zahlväter aus aller Welt nach Heidelberg strömen, um sich im Hauptfach Schuld zu immatrikulieren. Es wird Bars und Nachtklubs geben, die sich der besonderen Bedürfnisse der Schuldenthusiasten annehmen. Die Vernichtungslager werden sich in Touristenattraktionen verwandeln, durch die man kamerabewehrte ausländische Besucher herdenweise treiben wird, angenehm erregt und zitternd vor lauter Schuldgefühlen. Aber leider - nichts für Achtfaden hier, mit einem Schulterzucken zur endlosen Reihe seiner Spiegelbilder zwischen Back- und Steuerbord: er war mit dem Flug nur bis zu dem Punkt befaßt, wo die Luft zu dünn wurde, um noch einen Unterschied zu machen. Was weiter geschah, unterlag nicht seiner Verantwortung. Fragt Weichensteller, fragt Flaum und Fibel - sie waren für die Wiedereintrittsphase zuständig. Fragt die Leute vom Leitsystem, sie wiesen die Richtung, in die der Flug ging...
"Du findest es vielleicht ein wenig schizoid", jetzt laut, zu all den Achtfadenrücken und -gesichtern, "ein Flugprofil in Phasen der Zuständigkeit zu zerlegen? Das Aggregat war halb Gewehrkugel, halb Pfeil. Es selbst hat das gefordert, nicht wir. Also. Du vielleicht hast eine Flinte, ein Radio, eine Schreibmaschine benutzt. Manche Schreibmaschine in Whitehall, im Pentagon hat mehr Zivilisten getötet, als unser kleines A 4 es sich je erträumen konnte. Du bist entweder absolut allein, allein mit deinem eigenen Tod, oder du wirst Teil eines größeren Unternehmens und damit Teilhaber an fremden Toden. Sind wir nicht alle eins? Wofür entscheidest du dich", jetzt Fahringer, verrauscht und flach durch die Filter der Erinnerung, "für den kleinen Karren oder für den großen?" Der verrückte Fahringer, der einzige im Klub von Peenemünde, der darauf verzichtete, die exklusive, lange Fasanenfeder am Hut zu tragen, weil er sich nicht
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