Die Enden der Parabel
Nebelschwaden auf, die selbst den Glutpunkt auf der Pfeife des Schiffers verschlucken, weit oben oder unten auf dem träumenden Konvoi. Diese Nächte, duftend und marmoriert wie Pfeifenrauch, sind friedlich, und man kann gut schlafen. Der Berliner Irrsinn liegt hinter ihnen, Greta scheint weniger verängstigt, vielleicht war die Bewegung das einzige, was ihnen gefehlt hat...
Bis sie eines Nachmittags, auf der schiefen Ebene der Oder langsam in Richtung Ostsee gleitend, einen kleinen, rotweißen Urlaubsort sehen, beschmiert vom Krieg mit breiten Klecksen, und Greta sich an Slothrops Arm klammert. "Hier war ich einmal..." "Yeah?"
"Kurz vor dem Einmarsch in Polen ... ich war hier mit Sigmund ... im Mineralbad..." An Land, hinter Kränen und Eisengeländer, erheben sich Fassaden, die einmal Restaurants, Hotels, kleine Fabriken waren und jetzt niedergebrannt, fensterlos, von ihrem eigenen Staub überpudert sind. Der Name des Städtchens ist Bad Karma. Regen, der früher am Tag gefallen ist, hat die Mauern, die Trümmerhaufen, das Katzenkopfpflaster der Straßen gesprenkelt. Kinder und alte Männer stehen am Ufer und warten darauf, die Leinen aufzufangen und die Kähne heranzuziehen. Schwarze Rauchklöße quellen aus dem Schornstein eines weißen Flußdampfers empor. Greta starrt ihn an. Eine Ader pocht sichtbar an ihrem Hals. Sie schüttelt den Kopf. "Ich dachte, es wäre Biancas Schiff, aber es ist ein anderes."
Sie schwojen an den Kai und steigen auf eine eiserne Leiter, die in dem alten Mauerwerk mit rostigen Haken verankert ist, unter welchen sich feuchtglänzende, sienabraune Fächer über den Stein spreizen. Auf Margheritas Kostümjacke hat eine rosarote Gardenie zu zittern begonnen. Es ist nicht der Wind. Immer wieder sagt sie: "Ich muß sehen ..."
Alte Männer lehnen am Geländer, rauchen Pfeife, beobachten Greta oder schauen hinaus auf den Strom. Sie tragen graue Kleidung, weite Seemannshosen, breitkrempige Hüte mit runden Köpfen. Der Marktplatz ist belebt und sauber: Straßenbahnschienen glänzen, überall riecht es, als wäre gerade der Sprengwagen durchgefahren. In den Ruinen bluten Fliederbüsche ihre Farbe, ihren Überschuß an Leben, über die geborstenen Steine und Ziegel.
Mit Ausnahme weniger, schwarzgekleideter Gestalten ist das Mineralbad selbst menschenleer. Margherita ist inzwischen so nervös, so von Furien gehetzt, wie nur je in Berlin. Slothrop
schleicht in seinem Rocketman- Kostüm hinter ihr her und spürt eine Last. Der Sprudelhof wird auf einer Seite von einer sandfarbenen Arkade begrenzt: Sandsteinsäulen und braune Schatten. Ein Streifen davor ist mit Zypressen bepflanzt. Fontänen springen aus massiven Steinschälen, sechs Meter hohe Wasserstrahlen, die dicke und erregte Schatten über das glatte Pflaster des Hofes werfen.
Aber wer ist's, der so unbeweglich neben dem mittleren Brunnen steht? Und warum ist Margherita zu Stein erstarrt? Die Sonne scheint, andere schauen zu, doch sogar Slothrop spürt jetzt, wie ihm eine Gänsehaut über Rücken und Flanken kriecht, Kälteschauer, die sich Schicht auf verklingende Schicht übereinanderlagern, bis es ihm die Unterkiefer nach oben preßt ... die Frau trägt einen schwarzen Mantel, ein Crepeschal bedeckt ihr Haar, das Fleisch von dicken Knöcheln, das durch ihre schwarzen Strümpfe schimmert, wirkt beinahe purpurfarben, sie tut nichts weiter, als über das Wasser gebeugt und starr am Brunnenrand zu stehen und Slothrop und Greta zu beobachten, während sie sich zu nähern versuchen ... aber ihr Lächeln ... über zehn Meter leergefegten Hof hinweg beginnt es, Gewißheit zu signalisieren, spiegelt sich die ganze Malaise eines toten und vergangenen Europa in den Augen, die schwarz im kreidebleichen Gesicht stehen, schwarz wie die Kleider und lichtlos. Diese Frau kennt sie. Kennt sie beide. Greta hat sich umgedreht und versucht, ihr Gesicht an Slothrops Schulter zu verstecken. "Bei der Quelle" - ist es das, was sie flüstert? "Bei Sonnenuntergang, diese Frau in Schwarz..."
"Na, komm schon! Ist ja gut." Das Berliner Gefasel wieder. "Sie ist halt Kurgast hier." Idiot, Idiot - bevor er sie packen kann, hat sie sich losgerissen, einen lautlosen, schrecklichen Schrei am Grunde ihrer Kehle, und beginnt zu rennen, ein verzweifeltes Geklapper hoher Absätze über das Steinpflaster, hinein in die beschatteten Torbogen des Kurhauses.
"Hey", Slothrop, im Magen ein flaues Gefühl, macht sich an die Frau in Schwarz heran, "was soll der Witz dran sein,
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