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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Mabuse an besonders guten Tagen aufzusetzen pflegte. Man hört sie gerade aus dem Ruderhaus, wie sie ihr Shanty grölt, "Ööööö", beugt sich Slothrop über die Reling. So schippert die tollkühne Mission unter einem dunstigen Sommerhimmel an der Küste von Usedom entlang. An Land rollen grasbewachsene Dünen in zwei sanften Wellen empor: dahinter erhebt sich eine Hügelkette, die mit dichten Kiefern- und Eichenwäldern bewachsen ist. Kleine Badeorte mit weißen Stränden und einsamen Landungsstegen gleiten rheumatisch langsam vorüber. Ab und zu sieht man militärisch aussehende Schiffe, wahrscheinlich russische Patrouillenboote, die leblos am Ufer liegen. Keines erdreistet sich, die Grause Gnahb herauszufordern. Die Sonne gleitet durch Wolken, wirft Schatten, saugt sie auf, taucht das Deck in Augenblicke reinen Gelbs. Spät am Tag gibt es eine Stunde, da alle Schatten in dieselbe Ostnordostrichtung fallen, in der die Raketen aus Peenemünde zu ihren Probeschüssen über See gefeuert wurden. Der genaue Zeitpunkt, der mit der Ekliptik durch das Jahr wandert, ist als der Raketenmittag bekannt ... und das Geräusch, das in diesem Augenblick die Luft erfüllen muß für die Getreuen, kann nur verglichen werden mit einer mittäglichen Sirene, der eine ganze Stadt vertraut ... und die Eingeweide schwingen mit, hart wie Stein...
    Bevor der Ort in Sicht kommt, kann man ihn bereits fühlen. Selbst über einen Schandeckel hängend, die Wange gegen einen Fender gepreßt, der nach Teer riecht, die Augen tränend und der Magen überschwappend wie das Meer. Selbst öde und verbrannt,
    wie Rossokowski und die weißrussische Armee ihn im Frühjahr hinterlassen haben. Es ist ein Gesicht. Auf den Karten ist es ein Schädel oder ein verwüstetes Gesicht im Profil, nach Südwesten blickend: ein kleiner Marschsee bildet die Augenhöhle, die Mündung der Peene klafft als Nasen-Rachen-Raum, gleich unter dem Kraftwerk... der Stil der Zeichnung erinnert an die Bildergeschichten von Wilhelm Busch - es ist das Gesicht eines alten Schwachkopfs, dem die bösen Buben ihre Streiche spielen können: die Alkoholtanks anzapfen, garstige Wörter groß in den frisch gegossenen Zement schreiben oder sogar bei Nacht sich reinschleichen, um eine Rakete abzufeuern ...
    Flache, ausgebrannte Gebäude werden sichtbar, Aschenbilder von Tarnnetzen, auf den Beton gebrannt (nur eine Minute hatten sie, zu glühen, wie ein bürgerliches Seidenkleid - das Zimmer dieser Küste zu erhellen, den Ingenieurssalon voller plumper Formen und neutraler Farben ... mehr war's doch nicht als ein kurzes Lodern? Kein Grund, noch einzugreifen, keine Warnung, keine neuen Stufen zu erklimmen ... aber wer wäre das, der so zivil und milde Wacht hält über dem Modell? Ein Gesicht in den Buntdruckfarben dieses Sonnenuntergangs, die Augen hinter schwarzrandigen Brillengläsern, von denen sich jetzt erweist, daß sie, wie die aufflammenden Netze, als Tarnung gedient haben für keinen anderen als den Radfahrer am Himmel, den Reiter des himmlischen Drahtesels, die schwarze und fatale edwardianische Silhouette auf der leuchtenden Himmelsbrust des heutigen Raketenmittags, zwei kreisförmige Explosionen in der Stoßzeit, der Sterbeszene des
    Himmelslichts. Wie er sich abstrampelt da oben, heiter und unabwendbar ... im Tarot kennt man ihn als den Narren, in der Zone jedoch nennen sie ihn den Schlauen. Wir schreiben 1945. Es ist noch früh, noch unschuldig. Zumindest einiges davon). Verkohltes, hilfloses Gitterwerk: was einmal Holz war, sackt nur noch zusammen, ohne Halt. Grüne menschliche Gestalten blitzen zwischen den Ruinen auf. Die Maßstäbe sind hier sehr verwirrend. Die Soldaten wirken größer, als sie sollten. Ein Zoo?
    Eine Schießbude? Vielleicht von beidem etwas. Frau Gnahb schlingert dichter unter Land, mit halber Kraft an der Marschenküste entlang. Die Zeichen von Besatzung mehren sich: abgestellte Lastwagen, Zelte, eine Koppel voller Pferde, scheckig, fuchsbraun, schneeweiß, blutrot. Wilde Sommerenten explodieren naß und sprühend aus dem Schilfgürtel, überfliegen den Kutter und landen in seinem Kielwasser, wo sie quakend in Halbmeteramplituden auf und ab dümpeln. Hoch im Sonnenlicht rüttelt ein weißgeschwänzter Adler. Sanftlippige Bomben- und Granatentrichter sind angefüllt mit blauem Meerwasser. Die Kasernengebäude stehen abgedeckt: Rückgrat und Rippen, sonnengebleichte Knochen von Kreaturen, die in ihrer Zeit der Hälfte aller Jonasse des fallenden Europa

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