Die Enden der Parabel
ein teilnahmsvolles Mädchen zuhört. Einmal im Jahr treffen sich alle Mütter auf einer riesigen Geheimversammlung, um die neuesten Informationen auszutauschen. Rezepte, Spiele, die Schlüsselsätze, die sie gegen ihre Kinder einsetzen können. "Was hat deine immer gesagt, wenn sie wollte, daß du dich schuldig fühlst?"
"Ich hab mir die Hände für dich wundgearbeitet", sagt das Mädchen.
"Stimmt! Und natürlich hat sie auch diese entsetzlichen Pichelsteinersachen
gemacht, mit Kartoffen, und zerkochten Gemüsen-"
"Und Schweinefleisch! Winzigen Fitzeln Schweinefleisch!"
"Genau! Genau! Es kann kein Zufall sein! Sie haben auch einen Wettbewerb, um die Mutter des Jahres, mit Brustgeben, Windelwechseln, dabei wird die Zeit genommen, Eintopfwettkochen, ja, und dann, nach den Vorausscheidungen, beginnen sie mit den Kindern/ Der Generalstaatsanwalt kommt auf die Bühne: Die Pistolen sind mit Platzpatronen geladen, natürlich, aber das unglückliche Kind weiß es nicht. Nur die Mütter, auf die tatsächlich geschossen wird, qualifizieren sich für die Endrunde. Die wird mit Psychiatern ausgetragen, und die Preisrichter sitzen mit Stoppuhren daneben, um zu sehen, wie schnell die Kinder zusammenbrechen. Krankenwärter stehen bereit, um die geifernden, brüllenden, sich in klonischen Zuckungen windenden Kinder wegzuschleifen. Zum Schluß ist nur noch eine Mutter auf der Bühne übrig. Sie setzen ihr den traditionellen Blumenhut auf den Kopf und überreichen ihr Apfel und Szepter, in diesem Fall verkörpert von einem vergoldeten Schmorbraten und einer Peitsche, und das Orchester spielt Tristan und Isolde."
[3.20] Peenemünde
Im letzten Dämmerlicht des Tages verlassen sie ihr Versteck. Ein verschlafener Sommerabend in Peenemünde. Ein Entenschwarm zieht über den Himmel, Richtung Westen. Keine Russen in Sicht. Über dem Eingang zum Güterschuppen brennt eine einsame Glühbirne. Otto und sein Mädchen schlendern Hand in Hand über den Kai. Ein Affe kommt angetollt und greift nach Ottos freier Hand. Von Norden rollt ein flacher, weißer Wellenteppich in die Bucht. "Wie steht's?" fragt der Klarinettist. "Nimm 'ne Banane!" antwortet mit vollem Mund der Tubaspieler, der eine ganze Staude in den Trichter seines Instruments gestopft hat. Als sie sich endlich auf den Weg machen, ist es bereits Nacht. Sie marschieren landeinwärts, Springers Himmelfahrtskommando, immer den Bahngleisen nach. Zu beiden Seiten der Schlackenböschung ragen Kiefern auf. Weiter vorne hoppeln feiste, scheckige Kaninchen, von denen man nur die weißen Flecke sieht, kein Grund, anzunehmen, daß es tatsächlich Kaninchen sind. Ottos Freundin Hilde taucht anmutig aus dem Wald auf, seine Mütze, gefüllt mit Beeren, staubigblau und süß, in den Händen. Die Musiker haben sich Wodkaflaschen in alle verfügbaren Taschen gestopft. Das ist das Abendbrot für heute, und Hilde, als sie allein vor den Blaubeerbüschen kniete, hat gleich für alle das Gebet gesprochen. Aus dem Schilf kann man bereits die ersten Unkenrufe hören, dazu die hochfrequenten Schreie einer jagenden Fledermaus und leises Rauschen aus den Baumwipfeln. Und ein, zwei Schüsse, in größerer Entfernung.
"Schießen die auf meine Affen?" schnattert Haftung. "2000 Mark das Stück, wie soll ich das je wieder reinkriegen?"
Eine Mäusefamilie huscht über das Gleisbett und Slothrops Füße. "Ich hab mir das hier als 'n Riesenfriedhof vorgestellt. War wohl ein Irrtum."
"Als wir kamen, haben wir nur gerodet, wo's nötig war", erinnert sich Närrisch. "Das meiste blieb, wie es war - der Wald, das Leben ... wahrscheinlich gibt es sogar noch Wild hier, irgendwo weiter innen. Große Burschen mit dunklen Geweihen. Und all die Vögel - Schnepfen, Bläßhühner, Wildgänse. Der Krach der Probeläufe scheuchte sie immer auf das Meer hinaus, aber sobald es ruhig war, kamen sie zurück." Noch ehe sie den Flugplatz erreicht haben, müssen sie zweimal in den Wald ausweichen, das erste Mal vor einer Sicherheitspatrouille, dann wegen einer Dampflok, die von Peenemünde-Ost heraufgedampft kommt. Scheinwerfer schneiden durch den feinen Nachtdunst, Soldaten mit Maschinenpistolen hängen an Trittbrettern und Leitern, Knacken und Knirschen von Stahl, plappernde Stimmen, die nicht angespannt wirken. "Trotzdem könnten sie hinter uns her sein", flüstert Närrisch, "weiter!"
Durch einen kleinen Waldfleck und dann vorsichtig hinaus auf das offene Rollfeld. Eine spitze Sichel von Mond ist aufgegangen. Affen huschen mit
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