Die Erfindung des Abschieds /
bin nicht einmal sein Freund, du, Sonja, du bist der beste Freund, den er jemals hatte, mehr noch als Martin. Ich dachte, vielleicht würde er durch dich vernünftig werden und endlich einsehen, dass er eine Pflicht uns gegenüber hat, und auch sich selbst gegenüber, wahrscheinlich hab ich mich getäuscht … Fahr nach Hause, Sonja, schlaf vier Stunden, und dann arbeiten wir weiter! Wir haben einen neuen Hinweis bekommen, den wir sehr ernst nehmen …«
»Was für einen Hinweis?«, fragte Sonja. Als Thon den Raum verließ und die Tür schließen wollte, rief sie ihm hinterher: »Einen Moment, Volker!« Er blieb stehen und streckte den Kopf herein. »Gibt es keine Möglichkeit mehr, die Frist zu verlängern?«
Thon schüttelte den Kopf, und Funkel sagte: »Die Frist ist abgelaufen, endgültig. Wir können nichts mehr für ihn tun.«
»Doch«, sagte sie.
»Du fährst da nicht raus!«, sagte Thon. »Wir haben uns entschieden. Wir brauchen dich hier!«
»Er hat Recht«, sagte Funkel. Er stand nah vor ihr, und sie sah seine Bartstoppeln und die roten Äderchen an seinem Hals.
»Lasst uns die Entscheidung vertagen, bis wir den Jungen gefunden haben«, sagte sie.
»Nein«, sagte Thon.
»Warum willst du jetzt doch fahren?«, fragte Funkel, roch den Alkohol, den sie getrunken hatte, und verkniff sich eine Bemerkung.
»Weil ihr zu feige dazu seid!«
»Von mir aus, fahr, aber es wird nichts ändern. Tabor Süden wird suspendiert«, sagte Thon, und sein Kopf verschwand hinter der Tür.
»Er meint es nicht persönlich«, sagte Funkel. »Er ist um seine Abteilung besorgt, und du weißt, dass einige Kollegen hinter vorgehaltener Hand behaupten, Tabor bekäme eine Sonderbehandlung, weil sein Name so oft in der Presse stand, und weil du mich angeblich immer wieder dazu bringst, ihm eine Chance zu geben …«
»Hab ich nie getan.«
»Doch, das hast du, und ich werf es dir nicht vor. Volker und ich haben uns vorhin fast gestritten, bevor du kamst, und es hat mich geärgert, dass er sich so stur verhalten hat, deswegen hab ich dich angerufen. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass er Recht hat: Tabor hat den Bogen überspannt, seine Abwesenheit belastet das ganze Dezernat.« Flüchtig berührte er Sonjas Arm und ging zum Aktenschrank. »Ich weiß nicht mal, wohin ich ihm die Entlassung schicken soll. Kümmert sich denn inzwischen jemand um seine Wohnung?«
»Seine Nachbarin«, sagte Sonja, obwohl sie sich nicht sicher war.
»Hast du mit ihr gesprochen?« Er ging in die Hocke, sperrte den niedrigen Schrank aus Nussbaumholz auf, griff hinein und holte einen dicken Ordner hervor.
»Nein«, sagte Sonja und beugte sich über ihn und sah eine kahl werdende, nur noch von wenigen Haaren bedeckte Stelle. »Du kriegst eine Glatze.«
»Natürlich«, sagte er, erhob sich und stöhnte. »Das kommt daher, weil Gott mich dauernd so intensiv von oben herab ansieht, und du weißt, er hat einen sengenden Blick.«
»Ist mir neu.«
»Dann schau mal in den Spiegel, dein Haar ist völlig ausgetrocknet, das reine Stroh. Kommt alles von Seiner Hitze.« Er zeigte mit dem Finger zur Decke und legte den Ordner auf den Schreibtisch. Dann drehte er sich herum. Und schwieg eine Weile. »Er wird nicht mitkommen. Wir machen uns was vor, er … er ist draußen … außerhalb von … von allem … Volker hat Recht: Wir brauchen dich hier.«
»Ich will nicht zu ihm gehen«, sagte sie, und jedes Wort fiel ihr schwer. »Aber ich muss zu ihm gehen, die Zeit ist um, ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr dasitzen und auf einen Anruf von ihm warten. Ich hab gedacht, es ist vorbei, aber es wird nie vorbei sein.«
»Ich weiß.«
»Seit fünf Monaten, seit wir die Wohnung in der Elisabethstraße aufgegeben haben, benehm ich mich wie ein kleines, naives Mädchen. Ich sitz zu Hause und denk an ihn und stell mir vor, es klingelt, und er steht vor der Tür, und ich bin erlöst. Ist das nicht lächerlich?«
»Nein, es ist …«
»Natürlich ist es lächerlich! Ich weiß doch, dass ich ihn nicht loswerde, solange er da irgendwo im Wald sitzt und vor sich hindümpelt. Ich werd ihn erst los, wenn
ich
ihn loslasse, und das kann ich nur, wenn er da ist, wenn ich mit ihm reden kann, wenn ich ihn sehe, wenn
ich
von ihm weggehe. Was red ich da überhaupt? Was ist denn los mit mir?«
Sie senkte den Kopf. Funkel ging zu ihr und legte die Arme um sie. Sie blieb stehen und lehnte sich nicht an ihn. Er streichelte ihren Rücken.
»Du bist der einzige
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