Die Erzaehlungen
Wipfeln belebt. Innen ist alles Licht um einen Ton tiefer, ruhiger, vornehmer. Und es sind ein paar junge Menschen beisammen, und ihre Gespräche sind eben verstummt. Sie stehen in ihren achtlos aufgeknöpften Uniformröcken mit sehr hohen Kragen beisammen, gleichsam einander vergessend. Dann plötzlich macht einer eine Bewegung, als wollte er fliehen, wendet sich aber sogleich an seinen Nachbar, einen blassen blonden Jüngling mit großen und sinnenden Augen. »Spiel etwas, Sascha«, sagt er viel zu laut und wie über ihn fort. Da werden auch die andern wach, und sie drängen den Jüngling mit den traurigen sinnenden Augen zu dem kleinen altmodischen Klavier und legen ihm die heißen Hände auf die Tasten. Und der Jüngling fühlt in dem fremden Zimmer, in dem sie, weiß Gott weshalb, beisammen stehen und sich ereifern, wer vor ihm auf diesen Tasten gespielt hat; er fühlt zwei Hände neben den seinen, wie lehrend, aber so leise, und er ahnt auch das Gesicht zu diesen zwei Händen. Ein Mädchengesicht, von leisen zärtlichen Linien begrenzt. Es hebt sich von der Dämmerung eines Fensters ab, fast Silhouette und doch etwas mehr, so sieht man zum Beispiel ein gesenktes, fast mit dem Lid verhängtes Auge und die Stirne darüber, still, schattig bis an den Rand des wirren Haars, darin irgend ein Wind stehen geblieben ist. Und Sascha spielt also willig das Lied dieses Mädchens, wie die Tasten es wollen. Immer weiter, immer weiter spielt er das Lied dieser Abwesenden, Fremden, vielleicht schon Gestorbenen. Und so kommt die Dunkelheit über die Stube. Die anderen gehn fast in Dunkel verloren, denn sie haben die Gesichter horchend gesenkt. Nur dann und wann schimmert da und dort eine Stirne. Wenn irgendzwei von ihnen erschauern und zugleich die Augen heben und einander dunkel fragend ansehen.
Und immer öfter geschieht es mir, daß ich nicht sagen kann: ich bin …, sondern, daß ich sagen muß: es ist … aber dann schweige ich meistens.
Unsere Gefühle alle muten mich an wie Vorhänge vor Handlungen. Es muß nur ein Licht sich erheben irgendwo im Hintergrund, gleich bewegen sich große und geheimnisvolle Schatten über die Fläche des Vorhangs hin. Und wir würden gut tun, unsere Gefühle daran zu messen, und sie nur dann über uns breit werden(zu)lassen, wenn sie entweder so einfach sind und schlicht, daß wir sie leben in unseren Bewegungen und Mienen, oder aber so bildhaft und tief, daß wir sie erzählen könnten, wie etwas, was den Vorfahren geschah einst … in seltsamen Tagen.
Das ist unser Fortschritt: die Stoffe sind nichtmehr so schwer, so wichtig; wir dürfen sie gebrauchen und ganze Dramen schaffen, nur, um uns eines einzigen Gefühles bewußt, das heißt um ein neues Gefühl reicher zu werden.
Ein Morgen
(1899)
Zwischen dem Kastellfelsen von Arco und dem Dosso di Romarzolo, einem Bergrücken, der sich wie ein erwachender, durstiger Drache nach dem Gardasee schiebt, gibt es drei Ortschaften. Sie führen einen gemeinsamen Namen; so arm sind sie, daß keine von ihnen stark genug war, sich von der nachbarlichen dauernd zu unterscheiden. Am Rand der ersten Ortschaft ist eine Kirche, weiß und neu, aber doch schon im ersten Drittel ihrer Mauern schmutzig wie ein nachgeschleiftes Kleid. Sie ist allen drei Ortschaften zulieb gebaut, obwohl die Einwohner des entferntesten Dorfes lieber zu den Bettelbrüdern in das sehr alte Kloster Santa Maria delle Grazie beten und beichten gehen. Am Saume des zweiten Ortes ist ein Gasthaus, von den Gästen Arco’s nachmittags gerne besucht, und deshalb auch schon von den Fremden beeinflußt: ein helles Haus mit Aufschriften, Terrassen und kleinen Kübel-Oleandern, manchmal sogar mit einer Fahne bezeichnet. Und daneben ragt eine übergroße, vielfenstrige Dampfmühle und verdeckt die Häuschen und ihren Himmel. Sie gehört dem Wirte und ist nichts, als das häßliche Geld der Arceser Kurgäste, mit welchem sie ihm den sauern vino santo teuer bezahlen. Und jeder, der da kommt, trinkt, einen Witz in das fettige Fremdenbuch schreibt und die Kellnerin um ihren Namen fragt, legt, ohne daß er es weiß, einen Stein zu dieser ungeheueren Mühle hinzu, die überdies noch jedes Jahr ein junges Häuschen kriegt.
Ich weiß zufällig, daß die erste Ortschaft Chiarano heißt, die mit dem gemeinsamen Kirchlein am Rand. Ich glaubte ihre paar armseligen Häuser genau zu kennen; denn es führt eine steile Steinrinne mitten durch in den Olivenwald, der, gebückt und silbern, die Hänge im
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