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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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hatten eines in ihren Zügen: die große Dankbarkeit gegen Werner, ohne den sie niemals geworden wären. Und gewiß hätten sich alle gerne zusammengetan und dem jungen Mann in vereinter Kraft geholfen, die seit seinem sechzehnten Jahre gelähmten Beine wieder zu brauchen, wenn nur einmal irgendwer hätte vor ihnen knieen mögen. Aber die meisten waren nicht bestellt, standen in müßigem Erwarten nebeneinander in der Bodenkammer und kamen so gar nicht dazu, daran zu glauben, daß sie, selbst bei innigem Zusammenschluß, ein Wunder vollbringen könnten. Die Leute im Städtchen wunderten sich, daß Werner nicht ermatte, eine Maria um die andre zu schneiden, und die Ältesten schüttelten entrüstet und erstaunt die weißen Köpfe. Sie meinten, das sei ein Frevel; denn wie die heilige Maria eigentlich ausgesehen hätte, könnte keiner genau wissen, am wenigsten Werner, der um seiner Lahmheit willen nie in die Kirche konnte. Anne-Marie war vielleicht die einzige, die sich nicht wunderte. Das kam ihr ganz natürlich vor, wenn sie sich des frommen, zarten Knaben erinnerte, der einst, allen anderen Kindern fremd, mit ihr durch die traurigen Auen vor der Stadt gegangen war. Das war vor seiner Krankheit; allein in seinem Schritt war schon damals etwas Ängstliches, Flüchtendes gewesen, etwas, wovor Anne-Marie sich fürchtete, dessen Hilflosigkeit sie aber zugleich anzog und rührte. Wenn sie nicht sprachen und keine Blumen fanden, sangen seine Lippen oft von ungefähr ein leises, sehnsuchtsschweres Lied, und keiner wußte, woher es ihm kam. Und wenn die Sonne hinter den Weidenzweigen recht rot unterging, brach er in ein Weinen aus, als wäre jetzt ein lieber, wirklicher Mensch gestorben. Das war damals, als sie beide Kinder waren. Und der Anne-Marie schien es kein gar weiter Weg zu sein von dem In-den-Abend-Weinen zum Madonnenmachen, besonders durch das Kranksein hindurch. Deshalb war sie nicht verwundert über sein Tun, und fand es auch sehr natürlich, daß sie, ebenso wie sie mit dem Werner, der wandern konnte, durch die Auen gegangen war, nun bisweilen bei dem Werner, der das Gehen hatte vergessen müssen, in der Stube saß und seine hölzernen Heiligen ganz so teilnahmsreich betrachtete, wie seine Tränen von damals. Sie sah in dem kranken jungen Mann immer noch den seltsamen Spielgefährten, der ihr Mitleid brauchte, wie ihr Lächeln; und sie träumte manchmal von seinen tiefen, leidenden Augen und von seinen Händen, diesen mädchenhaften, weißen Krankenhänden, die in der Dämmerstunde immer etwas Feierliches, Segnendes bekamen.
    Diese Träume fielen ihr ein, wenn sie vor dem Kranken saß; sie lehnte dann den Kopf mit dem schweren, falben Haar ein wenig zurück, faltete die Hände im Schooß und sah in sein Gesicht, wie in eine weite Landschaft.
    »Anne-Marie, was hast du?«
    Sie erwachte und sagte einfach: »Ich denke.«
    »Was denkst du, Anne-Marie?«
    »Ich denke ob es viele Menschen giebt, die immer krank sind wie du?«
    »Ich fürchte, es giebt zu viele, Anne-Marie.«
    »Oh! Und für die müßte die ganze Welt nicht sein, nicht die Wälder und nicht die großen Städte, mit den vielen fremden und festlichen Dingen? Sie sehen das alles ja nie.«
    »Sie träumen davon, Anne-Marie.«
    Anne-Marie schwieg. Sie schämte sich.
    Einmal in einer solchen Dämmerstunde sagte Anne-Marie: »Weißt du, oft denk ich mir, ob du auch betest zu den heiligen Jungfrauen, die du dir aus Holz schneidest?«
    Der Kranke lächelte fein: »Ich mache sie. Das ist mein Gebet.«
    Anne-Marie sann einen Augenblick nach und sagte dann wie zu sich selbst: »Wie du dir die Maria vorstellst. Warum gerade so? Hast du einmal ein schönes Bild gesehen?«
    »Ich weiß nicht. Ein Bild oder einen Traum. Aber ich habe sie immer vor mir. Wie die Sehnsucht ist sie.«
    Da fragte das Mädchen: »Welche ist ihr am ähnlichsten?«
    Werner antwortete mit geschlossenen Augen: »Alle zusammen sind sie. Wenn du das Liebliche und Gnädige und das Mächtige und Innige von den Vielen an Eine schenkst, dann ist diese Eine ihr ähnlich. Immer muß ich neue schnitzen; denn es ist so viel Gütiges und Trautes in ihr. Alle diese zusammen und jene, die mir noch gelingen, sind sie. Ich liebe sie so.« Er breitete feierlich die Arme aus wie vor einer Vision.
    Dann verneigte sich Werner, griff nach der Figur, an welcher er eben schaffte, hielt sie hoch in den Abend und flüsterte: »Vielleicht mach ichs noch einmal: Alle in der Einen.« Er atmete tief auf. »Die bekommst

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