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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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gegenüber ausdrückte, »die Beschränktheit dieser Leute nicht verstehen«. Dafür durfte Luisa die Mutter manchmal abholen kommen und, wenn sie versprach, nur deutsch zu sprechen, zehn Minuten mit den Meeringschen Kindern, einem fünfzehnjährigen Rangen und der etwan drei Jahre jüngeren Lizzie, »spielen«. Der Erfolg war freilich immer ein entgegengesetzter, d. h. die beiden Geschwister stürzten sich auf das scheue und ängstliche Mädchen und begannen es, wie irgend ein Ding, zu schieben und zu stoßen, bis Frau von Meering meist gerade in dem Augenblick in die Tür der Kinderstube trat, da Luisa, an einen Schrank gebunden, ein weißes Opfer darstellte, während ihre Sprößlinge sie mit wildem Siegesgeheule, nach Indianersitte, umsprangen. Da war es nun nicht erstaunlich, daß Luisa sich diesen Besuchen keineswegs entgegenfreute und dankbar war, wenn die Mutter ihr verstattete, sie im Flur oder in der Straße zu erwarten. Manchmal kam dann gerade der Herr Obrist an ihr vorbei nach Hause und blieb, da er die Schrecken des Wäschetags vermeiden wollte, noch einen Augenblick vor dem Mädchen stehen. Der kleine, etwas dickliche Herr, der einen großen Ehrbegriff inwendig und einen großen Orden auf der Außenseite seiner Brust trug, blies mit einiger Behaglichkeit seinen Schnurrbart auf und leitete das kurze Gespräch immer also ein:
    »Warten auf den Herrn Bräutigam, gnädiges Fräulein?« Darauf wurde Luisa jedesmal so rot, als die schlechte Beleuchtung der Gasse es notwendig machte. Der alte Herr freute sich daran und erkannte von einem Mal zum nächsten immer deutlicher die Köstlichkeit seines Witzes, den er beim Abendessen, natürlich nachdem die Kinder zu Bette waren, gerne seiner Lotti wiederholte. Sonst wußte er ohnehin nicht viel zu erzählen. Denn es lag etwas Versonnenes in seinem Wesen, welches man auch durch dieses Beispiel beleuchten kann. So hat er mehr als fünf Jahre darüber nachgedacht, was der Wink, den man ihm zeitweilig von »oben« gab, bedeuten mochte. Verstanden hat er ihn freilich erst viel später, als das rastlose Winken höherenorts schon eine Art von Sturm hervorgerufen hatte, welcher endlich den Herrn Obristen von dem gefährlichen Gipfel eines Regimentskommandos sachte in das beschauliche Tal des Ruhestandes herunterwehte, in dem er sich nun nach wie vor sinnend erging. Er war ein Mann, der die Tiefen des Lebens nach den schauerlichen Abgründen alter Kalendergeschichten bemaß und sich oft verwunderte, wie hoch er, allen Fährlichkeiten zum Trotz, auf der irdischen Rangleiter emporgekommen war. Seine gerechte Gesinnung teilte aber nicht nur ihm selbst rückhaltlose Anerkennung zu, er wußte jeden nach Wert und Würden zu behandeln. Seit er erfahren hatte, daß der verstorbene Wanka fürstlicher Förster gewesen war und daß auch Frau Josephine dann und wann im Schlosse Frauenberg die Kammerfrau vertreten mußte, sah er die Witwe gerne in seinem Hause und fühlte einen Hauch indirekter Fürstenhuld von dieser Familie ausgehen.
    Wenn Frau Wanka an diesen Montagabenden endlich mit müden Augen aus dem Tor des Meeringschen Hauses trat, küßte sie die Tochter, und die beiden Frauen gingen, meist ohne ein Wort zu tauschen, durch die lebhaften Gassen der Neustadt der steinernen Brücke zu. Erst wenn sie aus der lauten Brückengasse in die schmalen, kaumbeleuchteten Zweiggäßchen eingelenkt waren, löste sich ihre Stimme, und sie begannen leise und langsam von Zdenko zu reden, wie zwei Spieluhren, die zaghafte Lieder träumen mitten in der Nacht. Über ihren Gesprächen war eine treue, rührende Zärtlichkeit, die um so inniger klang, als sie niemals in die Worte herunterstieg, aber die Frauen ganz erfüllte, ihre Bewegungen verschönte und ihr Lächeln leuchtender machte. Seit jenem Abend, da Luisas Augen sich so seltsam entzündet hatten an den heißen Worten des Bruders, war er für sie ein Anderer geworden, ein Mächtiger; und wenngleich die Liebe, die Frau Wanka ihrem Sohne bewahrte, tieferen Quellen entsprang, so verstanden Mutter und Tochter einander doch in dieser lauschenden und leisen Sprache und sagten einander darin mit vielen Worten etwa dieses: er ist ein Anderer geworden.
    Sie hatten recht damit. Eine freudige Erregung war über den jungen Menschen gekommen. Die Freundschaft mit dem Wald und die rüstige Ruhe seines Vaterhauses hatten ihn beschenkt, immer und immer wieder, und was man dafür von ihm wollte, war so lächerlich gering gewesen. Wenn er die Jahre vor des

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