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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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eines Fingernagels. Er funkelte im Licht des Leuchters zinnoberrot. Da sein Körper ihm entglitt, wollte Gaspard ihn zerstört sehen, und das Stück Glas machte es ihm deutlich: Er musste sein Fleisch bestrafen. Er musste eine Gegenleistung erbringen für seine Anwesenheit bei der Présidente de Cerfeuil; die Gegenwart anderer Männer musste aus diesem Fleisch gerissen, ihr Abdruck ausgelöscht, der Ingrimm, der unter seiner Haut schwelte, ausgetrieben werden. Seine Hände zitterten vor Ungeduld, sein Mund war trocken und auf seiner Stirn perlte der Schweiß. Gaspard hob das Nachthemd, enthüllte seinen Unterleib. Er betrachtete seinen schlaffen Penis, die rötlich violette Färbung der Eichel, die zur Hälfe unter der Vorhaut hervorragte, das Pech des Schambeins, die Trennlinie zur weißen, glatten Haut des Bauches. Er ergriff die Spiegelscherbe mit Daumen und Zeigefinger, näherte die schärfste Ecke seiner Haut. Mit der anderen Hand raffte er das Nachthemd und klemmte es zwischen die Zähne. Obwohl die berührte Stelle winzig war, löste das Glas ein Schaudern aus, das die Haut kräuselte und bis in den Nacken, bis zum Scheitel lief. Seine Augen hefteten sich auf den Bauch, sein Atem beschleunigte sich. Hinter der Mauer schlief Raynaud. Irgendwo hinter den Wänden träumten andere Gäste in träger Erwartung des neuen Tages. Keiner von ihnen dachte an ihn, Gaspard. Keiner dachte an diese Glasscherbe auf seiner Haut, an das Alabasterweiß seines Bauches. Was dieser Bauch enthält , dachte Gaspard, ist abgrundtief schlecht . »Gefährlich«, zischte er zwischen den Lippen hervor. Hier hat alles angefangen, in diesem begehrten, trügerischen Bauch, seine Schwächen genauso wie seine Wünsche, jedes seiner Zugeständnisse. Unter dieser Haut war die Last seines Wegs und seines Aufstiegs. Waren nicht hier die Genüsse sämtlicher Männer gestrandet, derer Gaspard sich bedient hatte, trug dieser Bauch nicht die ganze Schande seiner Person, die Strafe für seine wackeligen Schritte in der Gesellschaft? Gaspard holte tief Luft, biss in den Stoff, drückte die Bruchkante des Spiegels unter dem Nabel in die Haut. Er fühlte einen heftigen Schmerz, und die Spitze versank mit verwirrender Leichtigkeit im Weiß seiner Haut. Das Blut schwoll an der Schneide des Glases auf, begann dann als granatrote Spur abwärts in das Vlies seines Geschlechts zu strömen. Mit regloser Hand erforschte Gaspard den Schmerz, beurteilte ihn als zu kläglich. Es brauchte ein Leiden, das angemessen war, das ein Gleichgewicht herstellte, ihn von seinen Sünden lossprach, aus dem Griff der Männer befreite, ihn unvoreingenommen bestrafte.
    Langsam und präzise führte er den Arm, dessen Hand die Scherbe hielt, und ritzte die Haut tiefer ein. Seine Kiefer pressten sich auf den Hemdenzipfel, die Augen traten hervor. Gaspard erstickte einen Schrei in der Taubheit des Zimmers. Der Schnitt zog sich chirurgisch sauber von einer Seite zur anderen. Die Lippen der Wunde klafften auseinander, ließen die inneren Gewebeschichten erblühen, die Fettschicht, die in einer üppigen Flüssigkeit schwamm. Bei jedem Atemzug öffnete sich die Schramme wie ein Mund, ein Lächeln, dem eine scharlachrote Lymphe entströmte. Gaspard legte die Glasscherbe zurück. Er betrachtete den Schaden, den er seinem Körper zugefügt hatte. Das Blut tropfte auf sein Geschlecht und seine Schenkel. Nur die Tiefe der Wunde interessierte ihn. In einer Schublade der Frisierkommode fand er ein Stück Stoff und tupfte den Bauch damit ab. Langsam machte seine Sicherheit der Verwirrung Platz. Er zitterte und zuckte mit sämtlichen Gliedern. Der Stoff saugte notdürftig das Blut auf, und er presste die Hand auf den Bauch, um die behelfsmäßige Gaze festzuhalten und die Blutung zu stoppen. Gaspard warf den Kopf nach hinten und schloss die Lider, um das graue Zimmer nicht mehr sehen zu müssen. Seine Muskeln verkrampften sich, sämtliche Kräfte verließen ihn, und eine ergreifende Traurigkeit schlich sich in sein Bewusstsein. Er machte sich nichts aus der Wunde, die zu trocknen begann, aus seinem eigensinnigen Fleisch, das bereits an seiner Wiederherstellung arbeitete, der Kälte auf seiner Haut, aus seiner Erschöpfung. Die Wunde hatte mit ihrem Blut das Leiden weggespült, den Hass zunichtegemacht.
    Quimper, braun: Der Vater sagt, der Eber sei kurz vor Tagesanbruch ausgerissen. Er könne nicht weit sein. Die Hunde würden ihn aufspüren. Gaspard nickt. Er kennt das Tier, ein brauner Haufen

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