Die Fahrt des Leviathan
Straßenlaternen hervorbrachte, fremdartig und wirklichkeitsfern schienen.
»Sie sind schockiert, weil ich ausgerechnet diesem Vortrag unbedingt beiwohnen wollte«, erriet Rebekka die Gedanken der Lehrerin.
»Oh ja. Das bin ich«, bestätigte Amalie. Vor diesem Abend war Gobineau ihr kein Begriff gewesen. Innerhalb von zwei Stunden hatte sie ihn gut genug kennengelernt, um ihn zu verachten. Ausführlich hatte er über die Thesen seines Buches
Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen
referiert und detailreich dargelegt, dass es seiner Ansicht nach drei Rassen gab, von denen die schwarze die intellektuell und moralisch minderwertigste war und dass jede Vermischung der Rassen unweigerlich zum Nachteil der höherwertigen und daher unerwünscht sein müsse.
»Glauben Sie mir, ich kann Ihre Irritation nachempfinden«, gab Rebekka zu verstehen. »Es verhält sich so, dass Gobineaus Schriften schon seit geraumer Zeit ein Ärgernis für mich darstellen. Nun wollte ich die Gelegenheit nutzen, mir ein Bild von diesem Mann zu machen. Ich fand meine Erwartungen bestätigt – er ist ein aufgeblasener Pfau und Scharlatan, über den ich normalerweise lachen würde.«
»Normalerweise? Was hält Sie denn davon ab, ihn mit Spott zu bedenken?«
»Die Gefahr, die von seinen Gedanken ausgeht, ist dafür zu ernst. Sicher, die Vorstellung, dass die Weißen die vollendetste der menschlichen Rassen seien und insbesondere die Neger ihrer angeblichen geistigen Defizite wegen der beständigen Führung und Anleitung durch Weiße bedürften, existiert schon lange und wird von vielen zur Rechtfertigung der Sklaverei herangezogen. Gobineau aber hat aus alledem ein System entwickelt, für das er den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhebt.«
»Ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, vermutete Amalie. »Wenn etwas im Gewande wissenschaftlicher Vernunft daherkommt, dann gewinnt es besonderes Gewicht. Und gilt etwas erst als rational bewiesene Tatsache, wie ein Naturgesetz, sind die Auswirkungen nicht abzusehen.«
Rebekka nickte.
Tiefe Besorgnis klang in ihren Worten mit. »Ganz genau. Es könnten dann Gesetze erlassen werden, deren Grundlage die angeblich ja nachgewiesene Unterlegenheit der Schwarzen ist, um nur ein Beispiel zu nennen. Furchtbaren Dingen wären Tür und Tor geöffnet. Gebe Gott, dass es nie so weit kommt und Leute wie Gobineau als die Schwindler erkannt werden, die sie sind.«
»Daran zweifle ich nicht, Rebekka. Gestalten wie dieser französische Wirrkopf werden nie Einfluss gewinnen. Allerdings ist mir unverständlich, weshalb er meinte, seine Theorien gerade in Karolina propagieren zu müssen.«
»Mir nicht. Er wurde, wie ich herausfand, vom Verleger Jeremiah Weaver zu dieser Vortragsreise eingeladen«, verriet die Schuldirektorin.
»Ah! Sagen Sie nichts weiter, ich bin im Bilde!« Amalie schnippte mit Daumen und Zeigefinger, als sich die Teile des Mosaiks plötzlich zusammenfügten. »Das ist der Bruder des Mannes, der tot im Lagerhaus aufgefunden wurde. Georg erzählte mir über die Weaver-Brüder und ihre unerfreulichen Überzeugungen. Nun erkenne ich die Zusammenhänge.«
Rebekka wollte etwas anmerken; doch in diesem Moment erreichten sie eine Straßenkreuzung, an der sich ein eindrucksvolles Gebäude erhob, über dessen säulengetragenem Portal der in Stein gemeißelte preußische Adler seine Schwingen schützend über dem karolinischen Provinzwappen ausbreitete.
»Wo ich gerade das Palais des Provinziallandtags sehe, fällt mir etwas ein«, bemerkte die Schuldirektorin. »Bald treten die Abgeordneten wieder zusammen. Würde es Sie nicht interessieren, eine Sitzung zu verfolgen?«
Amalie lachte kurz auf. »Nein, nicht übermäßig. Ich war einmal in Berlin bei einer Sitzung des brandenburgischen Landtags anwesend. Die halbe Stunde auf dem Besucherbalkon dehnte sich endlos. Es ist furchtbar langweilig und deprimierend, Männer zu beobachten, die nichts zu sagen haben, aber dennoch debattieren, als hinge irgendetwas davon ab. Ein trauriger Anblick, den ich mir lieber ersparen möchte.«
»Aber Sie vergessen dabei, dass die Dinge in Karolina etwas anders liegen, da wir weitgehende Selbstverwaltung genießen«, erinnerte Rebekka sie und deutete auf das Landtagspalais, das den Straßenzug wie ein altrömischer Jupitertempel dominierte. »Unser hiesiger Provinziallandtag hat wirkliche Befugnisse. Wenn bedeutende Angelegenheiten entschieden werden müssen, gestalten sich die Sitzungen oftmals
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